Carpe diem – ein Perspektivwechsel

„Nutz deine Zeit“ – diesen Satz unter der Uhr auf einem Kirchturm sah ich jeden Mittwochabend, wenn wir als Familie zu einem Bibelkreis fuhren. Ich war jung, voller Idealismus und Tatendrang und meine Überzeugung vom Christsein bestand vor allem darin, so viel wie möglich für Gott tun zu wollen.

Für Gott arbeiten – das war gleichbedeutend damit, in Seiner Gemeinde zu arbeiten, den Glaubensgeschwistern zu dienen. Also wurde ich im Laufe der Jahre immer aktiver und hatte bald mehrere Aufgaben, die ich mit Feuereifer ausübte. Zu der Zeit hätte der Tag für mich 24 Stunden haben können und die Nacht dazu. „Nutz deine Zeit“ – wo sind noch freie Stellen in meinem Zeitmanagement, die ich für Gott und Seine Gemeinde ausfüllen kann? Ich war ein Hardcore-Christ, der kaum Verständnis für die anderen hatte, die in meinen Augen weniger ernsthaft bei der Sache waren, weniger Einsatzbereitschaft hatten, weniger fleißig waren, weniger gute Christen. Mein Maßstab war Willensstärke, Tatkraft und Leistungsfähigkeit.

„Nutz deine Zeit“ – dieser Satz musste eine dicke, harte Schale durchdringen, um mein Herz zu erreichen. Nach Jahren kräftezehrender Maloche dämmerte mir allmählich, dass es ein bedeutender Unterschied sein könnte, ob ich meine Zeit FÜR Gott einsetzte bzw. ob ich Zeit MIT Ihm verbringe. Zeit mit Gott verbringen, mein Interesse begann sich zunehmend darauf zu richten. Aber es war ein unbekanntes Terrain, mit dem ich nichts so recht anzufangen wusste.

„Nutz deine Zeit“ – ich selber und alle Mitchristen um mich herum verstanden diesen Satz als Motor für ihr befristetes Leben, das seinen Wert vor allem durch ehrgeizigen Aktivismus erhielt. Tief in mir, fast unbemerkt, begann eine Frage aufzusteigen, die immer mehr Raum einnahm: Was wäre, wenn Gott anders denken würde? Was wäre, wenn Er einen anderen Maßstab anlegte an mein Leben? Flüsternde Zweifel an meinem Lebensstil wurden lauter und lauter, bis sie in mir brüllten und dröhnten. Aber eine mit Vollgas sausende Dampflok ist nicht so leicht zu stoppen.

Mein Pflichtgefühl tolerierte keine Bremsung. Eine fatale Situation. Ich hatte mich in etwas hinein manövriert, was mich jetzt immer weiter antrieb, obwohl ich es eigentlich nicht mehr wollte. Ich war ausgelaugt und sehnte mich nach Ruhe. Es musste noch etwas anderes geben, was ich aber noch nicht zu fassen bekam. An diesem Punkt in meinem Leben, mit schwerwiegenden Fragen, Zweifeln und Konflikten ausgefüllt, griff Gott ein. Ich organisierte einen Ausflug für junge Leute, der völlig in die Hose ging. An dem Frust darüber brach ich zusammen. Von heut auf morgen gab ich alle Aufgabenbereiche, die ich hatte, an andere ab. Es musste sich etwas sehr Grundsätzliches ganz deutlich verändern in meinem Leben und jetzt war ich entschlossen genug dazu. Ich brauchte eine klare Ansage von Gott, wie es weitergehen sollte mit mir und ich würde darauf hören, egal was es wäre.

Ich zog mich völlig zurück und wartete auf Gottes Reden. Der erste schwache Eindruck, den ich in diesen Wochen hatte war, als wenn Gott mir ins Ohr flüstern würde: Geh weiter, du bist in der richtigen Richtung unterwegs, jetzt habe ich dich endlich mal ganz bei mir und du läufst nicht schon wieder weg, um irgendwas Wichtiges für mich zu tun…!

Es begann ein Prozess, in dem Gott meine Vorstellungen vom Christsein, meine Maßstäbe und Prioritäten völlig neu sortierte. Mit frisch erwachtem Interesse begann ich die Bibel zu studieren und immer häufiger machte ich überraschende Entdeckungen, die mir völlig neu schienen. Mir wurde klar, dass ich Gott völlig missverstanden hatte. Er wollte nichts von mir nehmen: Weder meine Zeit, noch meine Kräfte, mein Geld, meine Einsatzfreude, meinen asketischen Lebensstil, meine hohe Moral. All das hatte ich Ihm in den Weg zu meinem Herzen gestellt. Zwar gut gemeint, aber dennoch völlig am Wesentlichen vorbei.

Gott hat mir vor allem etwas zu geben: Alles, was ich suche, alles was ich brauche, bekomme und finde ich in Seinem Sohn Jesus Christus! Jesus, der Mensch, der wie niemand sonst demonstriert hat, wie nahbar Gott ist. Wie sehr Gott auf uns Menschen fixiert ist, wie tief Seine völlig vorurteilsfreie Liebe zu uns ist. Wie radikal Gottes Entschlossenheit ist, Menschen zu suchen, zu lieben und zu heilen.

Die Berichte vom Leben, Reden und Handeln Jesu wurden zu einem neuen Studienobjekt für mich. Zum ersten Mal war ich in der Lage, hinter den geschriebenen Worten und Geschichten zu erfassen, was für ein Herz dort pulsiert. Ein Herz, das für mich schlägt, das mich meint, das mich total bejaht und annimmt! Diese Einsicht hat mich befreit. Ich muss nicht mehr für Gott arbeiten, um ein besserer Christ zu sein. Ich muss nicht Gott dienen, um mir seine Zuwendung zu verdienen. Ich muss nichts leisten, damit Er mich wertvoll findet. Endlich kam ich zur Ruhe. In mir breitete sich ein nie gekannter Friede aus, der bis heute völlig präsent ist.

Ich weiß inzwischen, dass es wenig Bedeutung hat, ob ich nach Gott suche. Wirklich entscheidend ist, dass Er nach mir sucht. Wirklich wichtig ist, dass Er sich für mich interessiert, dass Er nach mir fragt, dass Er hinter mir her ist. In diesem Bewusstsein fühle ich mich geborgen und gut aufgehoben.

Heute kann ich es mir leisten Fehler zu machen. Ich muss nicht mehr der Vorzeigechrist sein. Ich muss nicht mehr peinlichst darauf achten, bloß nichts zu tun, was Gott traurig oder gar wütend machen könnte. Ich darf leben: Hurra! Ich darf „Ich“ sein, welch ein Glück! Gott, der mich geformt, gebildet hat, sagt „JA!“ zu mir und hat vor, kreativ, künstlerisch und gestaltend in mir zu regieren! „Nutz deine Zeit“ – dieser Satz, den ich nun schon so viele Jahre kenne, hat für mich heute eine andere Bedeutung als früher. Ich habe aufgehört, für Gott zu malochen.

Jesus hat gesagt, dass Sein Vater im Himmel ständig ohne Unterbrechung tätig ist. Das ist weder hektische Schaumschlägerei noch ineffektiver Wirbel. Vielmehr ist es sehr planvoll, gründlich, mit langem Atem, eine intensive Wirksamkeit, die darauf ausgerichtet ist, Menschenherzen zu suchen, zu finden und ganz für sich zu gewinnen. Mich hat Er gewonnen und was hat es gebracht? Ich habe Gewinn gemacht auf der ganzen Linie! Jesus sagt von Sich: Ich bin gekommen, … das Leben zu bringen, das Leben in seiner ganzen Fülle! (Joh.10,11)

Gott immer tiefer kennen zu lernen, das ist das wahre Leben. Sich Ihm anzuvertrauen, das bedeutet ein großes Glück. Als Gott zum ersten Mal zu Abraham spricht, sagt Er: Ich will Dich segnen und du sollst ein Segen sein. Diese Reihenfolge ist höchst bedeutsam. Wer nicht zu allererst von Gott beschenkt wird, hat nichts zu geben. Gott verschenkt Sich und Seine Wohltaten durch Menschen, die sich von Ihm beschenken und ausfüllen lassen.

„Nutz deine Zeit“ – Gott hat Dir richtig, richtig viel zu geben, achte darauf, nichts davon zu verpassen. Lasse nicht zu, dass Dein Leben in der Bedeutungslosigkeit endet, weil es keine ewigen Werte angereichert hat. „Nutz deine Zeit“ – es gibt keinen größeren Nutzen, als ein Leben mit Gott und in der liebenden Beziehung zu Jesus Christus!

Gerd Reschke