Auf der Flucht – alle unterwegs, alle willkommen

Predigt vom 14. Sonntag nach Trinitatis, 6.9.2015

1. Was sagt die Bibel zum Thema Flüchtlinge?

Die Bibel sagt nicht nur etwas über Flüchtlinge, sie ist ein Migrantenbuch. Sie ist ein Buch über Flüchtlinge:

  • Die ersten Migranten fliehen auf Grund von Kapitalverbrechen. Die Bibel berichtet von der Emigration von Adam und Eva aus dem Paradies, aus der Nähe Gottes, von Vertreibung und Flucht und dem mühsamen Sesshaftwerden an einem fremden Ort.
  • Kain, der Sohn von Adam und Eva, ist der nächste Vertriebene. Er hat seinen Bruder ermordet und ist fortan ein heimatloser Flüchtling.
  • Es gibt Flucht auf Grund von Naturkatastrophen: Noah in der Arche flieht vor einer Hochwasserkatastrophe.…
  • Abraham ist der erste Wirtschaftsflüchtling der Bibel: Eine Hungersnot lässt ihn nach Ägypten auswandern. Aus Angst, abgeschoben zu werden, gibt er seine Frau Sara als seine Schwester aus.
  • Isaak emigriert als Wirtschaftsflüchtling zu den Philistern.
  • Jakob flüchtet zunächst, weil er seinen Bruder tödlich beleidigt hat. Als alter Mann emigriert er aus wirtschaftlicher Not mit seinen elf Söhnen nach Ägypten

Dann kommt die große Generation der politischen Flüchtlinge:

Die Nachkommen Jakobs werden nach 400 Jahren allesamt aus Ägypten vertrieben und irren 40 Jahre auf der Halbinsel Sinai durch die Wüste. Angeführt werden sie von Mose, der wegen eines politischen Mordes viele Jahre auf der Flucht war. Die fünf Bücher Mose sind quasi eine einzige Geschichte von Flucht und Vertreibung. Eines der Worte, die im Alten Testament am häufigsten auftauchen, ist die Warnung, das niemals zu vergessen! Das lesen wir mantraartig! Das ist das zentrale Glaubensbekenntnis, was jeder Vater seinen Kindern beibrachte. Das konnten sie vorwärts und rückwärts und mitten im Schlaf aufsagen: Denkt daran, wie ihr vertrieben worden seid und wie Gott euch gerettet hat. Ihr habt als Fremde gelebt, vergesst das nie.

Auch das Neue Testament beginnt mit Flucht und Vertreibung.

Jesus kommt nicht zu Hause auf die Welt. Seine Eltern leben in einem besetzten Land, sind unterwegs und finden keinen Platz für die Geburt. Später müssen sie mit dem neu geborenen Baby vor dem Kinder mordenden Herodes nach Ägypten fliehen. Jesus ist ein Flüchtlingskind. Später danach gefragt, wo er zu Hause ist, antwortet er: „Füchse haben ihren Bau, und Vögel haben ihre Nester, aber der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sich hinlegen kann.“ (Mt 8, 20)

Was ist das für ein Gott, der zusieht, wie die Menschen über diesen Planeten irren und der manchmal sogar selbst Hand anlegt, vertreibt, verstößt und in die Flucht jagt? Ich will es euch sagen und ihr werdet vielleicht genauso erschüttert sein wie ich, als ich das begriff: Gott selbst hat Migrationshintergrund. Gott selbst ist ein Flüchtling. Er verlässt seinen Wohnsitz, er tauscht den Himmel gegen die Erde ein und wartet seit diesem Zeitpunkt auf Integration.

Wir lesen bei Johannes: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahm ihn nicht auf. Er kam zu seinem Volk, aber sein Volk wollte nichts von ihm wissen.“ In einem einzigen wuchtigen Satz das ganze Elend Gottes: Du bist hier nicht willkommen.

2. Wir sind alle Ausländer

Ich bin nicht von hier. Ich bin keine Kelzenbergerin. Ich hin aus Wuppertal. Meine Eltern waren auch keine Wuppertaler. Mein Vater ist in Neu Guinea geboren, aber seine Eltern waren keine Papuanesen.

Wir sind alle nicht von hier. Wir sind alle Zugezogene und werden früher oder später wieder abreisen. Ein Narr, wer so lebt, als würde er hier Wurzeln schlagen.

Paulus, der übrigens auch auf der Flucht gewesen ist, sagt: „Wenn das irdische Zelt, in dem wir jetzt leben, nämlich unser Körper, abgebrochen wird, hat Gott eine andere Behausung für uns bereit: ein Haus im Himmel, das nicht von Menschen gebaut ist und das in Ewigkeit bestehen bleibt.“

Unser Leben ist nicht unser eigentliches Zuhause. Unser Leben, unser schönes, kostbares, geliebtes Leben ist nicht mehr als ein Zelt. Eine Baracke, ein Provisorium. Wir sind hier nicht zu Hause. Je fester unser Haus, je größer unser Konto, je mehr PS unser Auto, desto größer ist die Gefahr, sesshaft zu werden und nie mehr weg zu wollen.

Der Schweizer Theologe Walter Lüthi hat gesagt: „Diese Welt ist ein riesengroßer Campingplatz.“ Eine Durchgangsstation. Wir sind auf der Durchreise. Wir sind hier nicht zu Hause. Wir sind nicht von hier. Wir sind Asylanten. Unser Asyl ist im Himmel! Das heißt: Wir alle sind hier auf dieser Welt Ausländer! Hier auf der Erde gibt es keine Heimat! Alles, was uns daran erinnert, ist heilsam! Ich bin der festen Überzeugung, wenn jeder auf dieser Erde dies erkennen würde, gäbe es keine Flüchtlingsproblematik.

Wenn wir alle Ausländer sind, macht die Unterscheidung von Deutschen und Migranten keinen Sinn. Dann sitzen wir alle im selben Boot.

Es würde uns demütig und dankbar machen, dass wir es so gut haben, dass wir seit 70 Jahren keinen Krieg mehr hatten, dass wir nicht nur in unseren Kirchen, sondern sogar auf der Straße, sogar am Düsseldorfer Hauptbahnhof laut von Jesus singen können, ohne dass uns jemand verhaftet. Das würde uns demütig und bescheiden machen und uns eine tiefe Achtung geben vor dem, was wir hier alles haben. Und – im gleichen Atemzug – eine ebenso große Achtung vor denen, die das alles nicht haben.

3. Das hat Konsequenzen

Gott hat ganz klare Vorstellungen von unserem Umgang mit Ausländern und Flüchtlingen, und sie sind radikaler als alles, was wir in unserem mitmenschlichen Repertoire haben: Wir sollen sie lieben! Österreich hat eine Migrantenfibel herausgegeben, die versucht den Zuwanderern westliche Prinzipien und Werte zu erklären. Wir wollen Demokratie. Wir schätzen Werte wie Verantwortung, Respekt, Bildung, Gemeinwohl, Eigenverantwortung etc.. Sie hätten in die Bibel schauen müssen, weil die Bibel eine Migrantenfibel ist. Sie vermittelt ganz viel an lebensorientierten Prinzipien und ganz praktischen und praktikablen Werten:

An nichts kleben, außer an Gott

„Wenn es euch dann gut geht und ihr euch satt essen könnt, dann gebt Acht, dass ihr den Herrn nicht vergesst, der euch aus Ägypten herausgeführt hat.“ (5. Mose 6) Wer sesshaft wird, fängt an zu kleben. Das ist ein Naturgesetz. Er klebt an Land, Haus, Bankkonto, Auto, Inhalt des Kleiderschranks, des Portemonnaies, Möbel, Handy, Laptop, Reisen und vergisst glattweg, dass er auf der Durchreise ist und irgendwann der Tag kommt, an dem er alles loslassen muss. Er vergisst Gott. Vergiss nie, dass dein Zuhause im Himmel ist. Schau genau hin, ob und wie sehr du anfängst, am Falschen zu kleben.

Andere auf der Durchreise lieben

„Der Herr verhilft Witwen und Waisen zu ihrem Recht. Er liebt die Ausländer und gibt ihnen Nahrung und Kleidung. Auch ihr sollt die Ausländer lieben, denn ihr wart selbst einmal Ausländer in Ägypten.“ (5. Mose 10, 17)

Dass ihr auf der Durchreise seid, erfahrt ihr Tag für Tag, wenn ihr in der Zeitung Todesanzeigen lest, wenn ihr krank werdet, wenn ihr die erste Brille braucht, wenn ihr nur noch mit Stock gehen könnt, wenn das Gedächtnis nachlässt, wenn das Gebiss klappert: Ihr seid auch nicht von hier! Die logische Konsequenz, die daraus folgt: Der andere auf der Durchreise sitzt im selben Boot wie ich. Er ist genauso auf Willkommen, auf Wertschätzung, auf Unterstützung angewiesen wie ich. Gott liebt den Fremdling.

„Wenn sich ein Ausländer bei euch niederlässt, sollt ihr ihn nicht ausbeuten. Den Ausländer, der bei euch wohnt, sollt ihr wie einen von euch behandeln und ihr sollt ihn lieben wie euch selbst. Denn ihr selbst wart einst Fremde in Ägypten.“ (3. Mose 19, 33f)

So geht Integration. Einen anderen Reisenden behandeln „wie einen von uns.“ Darum ist der Deutschunterricht so wichtig, damit sie eine Chance haben, einer von uns zu werden. Darum betreuen wir die Kinder. Darum bekommen sie Fahrräder, darum gehen wir mit ihnen zu Behörden und zum Arzt. Darum laden wir sie ein, in unserem Haus Billard zu spielen. Damit sie einer von uns werden.

„Das Laubhüttenfest sollst du sieben Tage lang feiern. Als Freudenfest sollst du es begehen mit deinen Söhnen und Töchtern, deinen Sklaven, dem Leviten, den Fremden, die bei euch leben, der Waise und der Witwe in deinem Wohnort.“ (5. Mose 16)

So geht Integration. Einladen! Wisst ihr, was ich gedacht habe? Warum habe ich die Leute vom Deutschkurs eigentlich nicht zu meiner Geburtstagsparty hier ins Gemeindehaus eingeladen? Oder zumindest die drei, die hier immer zum Billardspielen herkommen? Ich habe 5. Mose 16 zu spät gelesen.

„Wenn ihr erntet, sollt ihr euer Feld nicht bis an den Rand abernten und keine Nachlese halten. Auch eure Weinberge sollt ihr nicht ganz ablesen und die heruntergefallenen Trauben nicht aufheben. Lasst etwas übrig für die Armen und für die Fremden bei euch.“ (3. Mose 19)

So geht Integration! Ihre Menschenwürde achten. Ihnen keine Almosen geben. Sie selbst etwas zu ihrem Lebensunterhalt beitragen lassen. Ihnen Arbeit geben. Wohnraum. Zeit. Freundlichkeit. Wertschätzung.

Ein Busfahrer hat neulich in Erlangen, als eine Gruppe von Flüchtlingen einstieg, gesagt: „Willkommen in Deutschland, willkommen in meinem Land.“ Klaus Kleber hat davon in den Nachrichten berichtet und mit den Tränen gekämpft. Mich rührt nicht Klaus Kleber und auch nicht dieser Busfahrer. Aber mich rührt, dass eine einfache, eigentlich total selbstverständliche Geste scheinbar so unselbstverständlich, so ungewöhnlich, so unerwartet ist, dass ein gestandener Fernsehmann, der ganz andere Nachrichten ansagt, weinen muss. Deutschland, wo sind wir hingekommen?

Wie viele Menschen leben hier, die vor 70 Jahren selber fliehen mussten und noch genau das Gefühl kennen müssen, wie abgrundtief dankbar sie waren, wenn sich hier eine Tür öffnete und jemand sagte: „Willkommen in Deutschland. Willkommen in meinem Land.“

Wir können zu Fremden etwas Großartiges sagen, etwas, was sie sicherlich noch nie gehört haben:

Ihr seid uns willkommen, weil unser Gott selbst ein Flüchtlingskind ist.

Willkommen, weil wir auch Migranten sind, alle zusammen! Willkommen, weil auch wir hier keinen einzigen Ort haben, an dem unser Zuhause ist. Willkommen, weil wir alle Asylanten sind und weil wir zutiefst dankbar sind, dass unser Asylantrag im Himmel schon genehmigt ist und wir wissen: Da können wir bleiben. Willkommen, weil ich jeden Tag davon lebe, dass Gott zu mir sagt: Willkommen Gabi, willkommen in diesem Leben, willkommen in meinem Herzen.

Gabi Beuscher