Erst erschreckt – dann aufgeweckt

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Bodo Beuscher im Gespräch mit Gerd Heydn

Gerd, ich erinnere mich noch gut, wo und wie wir uns das erste Mal getroffen haben. Wir waren 1992 auf Jugendfreizeit in Spanien, und du hattest die Wochen vorher bei den Olympischen Spielen in Barcelona als Journalist gearbeitet. Ich war richtig gespannt darauf, dich zu sehen. Da war ein Mann, dessen beide katholisch getaufte Töchter inzwischen intensiv in unserer Gemeinde mit lebten, dessen Frau, damals auch noch katholisch, immer wieder mal „schnupperte“, der selbst aber völlig auf Distanz blieb.

„Der Augenblick unserer Begegnung in Spanien war damals ja nur flüchtig und kurz für mich. Meine Frau hatte mich unmittelbar nach den Olympischen Spielen mit dem Auto abgeholt, weil wir in der Nähe von Barcelona Urlaub machen wollten. Die Autopapiere aber hatte unsere Tochter Tanja in der Tasche mit in die Jugendfreizeit genommen. Aus Angst um unsere Verkehrstüchtigkeit sind wir damals als erstes zu euch in die Finca Arenys gefahren und haben uns die Kfz-Papiere von Tanja geholt. Zu jenem Zeitpunkt waren meine Oberflächlichkeit in Glaubensfragen und die Distanz zur Kirche noch prägend in meinem Leben.“

Wie hast du das denn erlebt, wenn deine Töchter von ihrem Interesse am Christsein erzählten? Was hast du gedacht, wenn du mit bekamst, was sich in ihrem Leben änderte? Hast du – als guter Papa – zugehört? Hast du – als kritischer Papa – Bedenken gehabt? Hast du diskutiert?

„Anfangs, also Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, war ich nur ärgerlich, wenn mir Tanja und Britta sonntagmorgens eröffneten, dass sie lieber zum Gottesdienst nach Kelzenberg wollten als mit mir gemütlich zu frühstücken. Zu jener Zeit war es für mich in meiner journalistischen Arbeit noch eine Kostbarkeit, den Sonntagmorgen mit meiner Familie zu verbringen. Als guter Papa habe ich meine Kinder zwar nicht gemaßregelt, aber mein Unmut war halt spürbar. Andererseits wurde mir bewusst, dass ihnen der Weg nach Kelzenberg wichtig war. Die tatsächlichen Veränderungen im Leben meiner Kinder habe ich erst etwas später zur Kenntnis genommen und hinterfragt. Was aber immer unmissverständlich bei mir rüberkam, war die Sorge meiner Kinder um das Seelenheil ihres Vaters. Irgendwann haben die Gespräche dann aus meiner Oberflächlichkeit zur Neugierde geführt. Und dann bin ich eines Sonntags mit nach Kelzenberg gefahren.“

Dein erster Eindruck?

„Die Schlichtheit der Kirche und der große Schriftzug über dem Altar: Er ist unser Friede. Der hat mich angemacht und tut es noch heute, wann immer ich in die Kirche komme. Dieser optische Eindruck und dann die erste Predigt, die ich von dir gehört habe, blieben im Kopf sitzen, auch wenn ich heute nicht mehr weiß, wovon du damals gesprochen hast. Haften geblieben ist mir aber, dass mich der Inhalt deiner Predigt überzeugt hatte – und nach mehr verlangte. Denn Überzeugungsarbeit war wichtig für meinen Kopf, und erst mal nur für den. Der Sprung vom Kopf zum Herzen folgte erst ganz allmählich.“

Und irgendwann hast du deine Distanz verlassen, hast angefangen zu hören, zu fragen, zu beobachten… War das nicht schwer für einen „gestandenen“ Mann um die Fünfzig, der einen eher stressreichen Beruf ausgeübt und mit vielen „coolen“ Leuten zu tun hatte?

„Als meine Neugier mal geweckt gewesen war, erschien es mir eigentlich nicht mehr schwer. Neugier und Beobachtungsgabe liegen ja in der Natur meines Berufes. Mein Nachholbedarf an Verständnisfragen und Bibelkenntnis war ja riesengroß, ist es im Grunde heute noch. Aber dafür habe ich in Kelzenberg immer wieder Menschen gefunden, angefangen bei dir und Gabi, später in meinen Hauskreisen, die ich heute gerne als meine persönliche geistliche Tankstelle bezeichnen möchte. Euer nimmermüder Einsatz und die Leidenschaft für die Lehre Jesu Christi haben letztlich auch einem hart gesottenen ‚Widerstandskämpfer‘ wie mir nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz geöffnet. Was ich aber bis heute nicht gelernt habe, ist, mich gegenüber ‚coolen‘ Nicht-Christen als Christ zu outen. Diese Hemmschwelle habe ich leider noch immer nicht überwunden.“

Du hast dir ja für deinen Schritt ins Christsein Jahre Zeit gelassen. Dieses lange Nachdenken fand ich immer Klasse – bis du mir kurz vor deiner Taufe erzählt hast, dass du ja eigentlich schon als Kind eine Erfahrung mit Gott gemacht hattest, die sehr deutlich gewesen war.

„Ja, ich erinnere mich gut an Deine Worte: ‚Was für einen Hammer muss Gott denn noch auf dich loslassen. Was willst Du denn noch hören, bis Du endlich kapierst…?‘ Die Vorgeschichte: Als ich zehn Jahre war, musste meine Mutter an einem Gehirn-Tumor operiert werden. In der Nacht nach der OP rief das Krankenhaus an, wir sollten noch mal kommen – Abschied nehmen von meiner Mutter. Das überstieg meine Vorstellungskraft, das konnte – das durfte nicht sein. Und in solch einem Augenblick greift auch der vermeintlich Ungläubige nach dem Strohhalm, der da heißt: Gott. Der kleine Gerd suchte einen Vertrag mit diesem Gott zu schließen: Herr, wenn Du meine Mutter leben lässt, dann will ich auch an Dich glauben! Und Gott hat den Vertrag damals wohl ohne Einschränkung unterschrieben und im wahrsten Sinne des Wortes mit Leben gefüllt. Meine Mutter ist fast 94 Jahre alt geworden.“

Da wurdest du „aufgeweckt“, aber irgendwann hast du den Wecker wieder abgestellt?

„Ich habe den Wecker wohl immer wieder mit dem Kopfkissen erstickt, um mein altes Leben weiter so laufen zu lassen. Oberflächlich war so ein latentes Gefühl des Glaubens wohl in mir, nur offen und ehrlich habe ich mich nicht dazu bekannt, war ja nicht mehr in Not. In Notzeiten wie im Krieg erinnert man sich bekanntlich gerne an die – mögliche – Existenz eines Gottes, dann, wenn wir nicht mehr weiter wissen, wenn uns bewusst wird, dass wir eben nicht alles selbst in der Hand haben, unser aller Hiersein auf der Welt von Endlichkeit bestimmt ist. Gott hat wahrlich viel Geduld mit seinem ‚Vertragspartner‘ Gerd gehabt. 54 Jahre habe ich gezaudert, gezögert, gezweifelt, war interessierter, aber doch immer distanzierter Beobachter. Mir fehlten die geeigneten Anschieber, Bremser war ich mir über die Jahre selbst genug – bis meine Kinder anfingen, beharrlich an mir zu arbeiten.“

Vor kurzem bist du 70 Jahre alt geworden. Gilt für dich: Je älter, desto wacher?

„Ich hoffe, dass ich nicht noch mal sanft entschlummere. Mit 70, darf man ja sagen, biegt man allmählich in die Zielgerade seines Lebens ein. Und in diesem Alter haben sich auch die Richt-Werte meines Lebens in der täglichen Auslegung verschoben. So gesehen ist mir Gott heute näher als vielleicht noch vor zehn Jahren zu Zeiten meiner beruflichen ‚Ablenkung‘. Und die war wahrlich groß. Ich will sagen: Herr ich bin auf dem Wege zu Dir, aber der Weg erscheint mir immer noch weit. Das Gefühl kehrt immer mal wieder, das mich schreien lässt – ich komme nicht so recht vor-wärts. Und doch – ich denke, ich bin seit meiner Taufe bereit, mich bewegen zu lassen. Ich hoffe das jedenfalls inständig für mich selbst. In meiner ganz persönlichen täglichen Fürbitte sage ich: Herr, zeig mir den Weg zu Dir, lass mich Dich spüren, hören, füll mich ganz mit Dir und gib mir Deinen Frieden…“