Gerd Heydn im Gespräch mit Charlotte Cieszinski

Sie betreiben eine Sportart für starke Frauen oder die Frauen stark machen soll – Kempo, eine Kampfsportart, die ihren Ursprung in China und Japan hat. Selbstverteidigung oder Ventil für Aggressionen?

„Ein Ventil gegen Aggressionen ist es für mich zu keiner Zeit gewesen. Meine Tochter wurde mit 15 in der Schule gemobbt. Da bin ich mit ihr zusammen einem Verein beigetreten, der Kempo angeboten hat. Ich mache das jetzt seit fünf Jahren, gehe zwei Mal wöchentlich zum Training. Ich habe gelernt, mich zu wehren – falls nötig. War es aber bislang noch nicht. Für mich dient Kempo der allgemeinen Fitness, schult Reflexe und Konzentration, leitet auch Meditation und Atemübungen an. Einmal im Jahr fahren wir vom Verein aus nach Fehmarn. Dort spüre ich die Energiefelder der Natur, Gottes wunderbare Schöpfung.“

Sie arbeiten heute als Postzustellerin. War das immer der Beruf, den Sie gerne ausüben wollten?

„Beileibe nicht. Ich wäre gerne Erzieherin für behinderte Kinder geworden. Meine Eltern hatten eine Kneipe betrieben. Da musste ich schon in jungen Jahren helfen, habe oft bis Mitternacht gearbeitet, bin morgens früh trotzdem zur Schule. Mit 17 kam es zum Bruch mit meinen Eltern. In dem Alter habe ich auch schon meinen Ex-Mann kennengelernt und dann dessen zwei Kinder groß gezogen. Nach einjähriger Unterbrechung wollte ich wieder zur Schule gehen, aber diesen Versuch hat meine Mutter vereitelt. Sie hat meine Darstellung, warum ich dem Schulbesuch ein Jahr lang fern geblieben war, gegenüber der Schule glattweg als Lüge dargestellt. Und man hat ihr mehr geglaubt als mir. Dadurch ist mir eine zweite Chance versagt geblieben. Mit 25 Jahren habe ich bei der Post angefangen, in der Zwischenzeit ein eigenes Kind bekommen. Mittlerweile arbeite ich seit 16 Jahren bei der Post.“

Das wirft kein gutes Licht auf Ihr Elternhaus…

„Meine Geschwister und ich hatten wahrlich kein gutes Elternhaus. Mein Vater hat uns geschlagen, aber noch schlimmer war: Meine Mutter hat gegenüber uns Kindern regelrechten Psychoterror ausgeübt. Mit vier Jahren stand ich mit gepacktem Köfferchen in der Tür und wollte von zu Hause weglaufen, weil ‚hier hat mich ja niemand lieb!‘ Mit acht Jahren wollte ich dann mit einem Klassenkameraden zusammen abhauen. Aus Angst vor meinem Vater, so eine Art Bud-Spencer-Typ, habe ich es letztlich nicht getan. Aus dem gleichen Grund haben wir Kinder auch nie einen Versuch unternommen, beim Jugendamt Hilfe zu suchen. Ich kam letztlich zu dem Schluss, dass es anderen Kindern noch schlechter ging als uns. Und mein Ex-Mann hat als Kind in seinem Elternhaus ähnliche Erfahrungen machen müssen wie ich. Die Spirale drehte sich weiter und wir haben die gleichen Fehler an seine Kinder weitergegeben. Ich bin mit 23 Jahren gemeinsam mit meinen Stiefkindern zur Therapie gegangen. Mir war durchaus bewusst, dass ich die gleichen Fehler machte wie meine Eltern früher bei mir.“

Und, haben Sie diesen Kreislauf doch noch durchbrechen können?

„Die Therapie hat nichts gebracht. Mein Ex-Mann war ohnehin der Meinung, alles richtig zu machen und hat die Therapeuten als ‚Götter in Weiß‘ abgetan. Ich hatte mir schon mit 19 Fachliteratur für Kindererziehung geholt. Auf der anderen Seite hatte ich längst gemerkt, dass meine Ehe nicht hält, bin aber wegen der Kinder geblieben. Deren leibliche Mutter hatte sich ja schon nicht für sie interessiert. Mit 29 habe ich dann allerdings doch die Reißleine in meiner Ehe gezogen und bin mit meiner leiblichen Tochter in eine eigene Wohnung nach Otzenrath gezogen.“

Gott kam bis dahin in Ihrem Leben überhaupt nicht vor?

„In der Grundschule hatte ich eine tolle Religionslehrerin. Die hat tatsächlich einen ersten Funken bei mir ausgelöst. Aber dieses zarte Flämmchen ist zu Hause durch meine Eltern direkt wieder im Keim erstickt worden. Dabei wollte ich eigentlich schon länger wissen, was in der Bibel steht. Stimmt das alles so. Mit meinem Arbeitskollegen Achim Weschkalnies habe ich erste Gespräche zum Glauben auf unserer gemeinsamen Arbeitsstelle bei der Post geführt. Er hat mir auch meine erste Bibel geschenkt. Doch ich habe erst fast nichts verstanden. Achim hat mich dann zu regelrechten Bibelstunden zu sich nach Hause eingeladen; später haben wir das bei Ulrike und Gerd Reschke fortgesetzt. Wir haben uns regelmäßig einmal die Woche getroffen. Bei Gerd Reschke bin ich heute im Hauskreis. Die Drei haben mir über zehn Jahre in meinem Glaubensprozess wesentlich geholfen. Ich begann, täglich abends die Bibel zu lesen. Inzwischen habe ich sie einmal komplett durch.“

Gibt es bestimmte Fragen in Ihrem Glaubensprozess?

„Ja. Bei mir bildet die Schuldfrage in meinem bisherigen Leben ein besonderes Thema. Ich konnte bislang nicht verzeihen. Aber ich habe gelernt, diese Schuldfrage an Gott abzugeben. Und ich fühle im Augenblick, dass ich vielleicht doch noch verzeihen kann. Das ist wohl ein laufender Prozess in mir. Dafür muss ich die Bibel wohl noch viel öfter lesen. Heute lese ich bestimmte Passagen anders als gestern. Ich bin heute jedenfalls sicher, dass Gott in meinem Leben alles so geplant hat. Ich weiß nicht, für was bestimmte Lebenssituationen gut waren. Vielleicht wird es mich Gott eines Tages wissen lassen – vielleicht aber auch nicht.“

Ihr Sprung in die Gemeinde Kelzenberg?

„Ich hatte durch Reschkes von Kelzenberg gehört. Als Gerd Reschke zum ersten Mal im Gottesdienst gepredigt hat, war ich auch erstmalig in Kelzenberg. Ulrike hat mich dann zum Glaubenskurs 2016 überredet. Mittlerweile fühle ich mich in den Gottesdiensten regelmäßig ‚abgeholt‘. Abendmahl im Gottesdienst ist für mich immer etwas ganz Besonderes. Beim ersten Mal war ich emotional so ergriffen, so berührt, dass ich weinen musste. Passiert mir immer wieder, zuweilen auch bei Liedern.“

Ihr aktueller Glaubensstatus?

„Ich weiß heute, dass mir Gott Menschen in den Weg gestellt hat, die die Reißleine für mich gezogen haben. Ich spüre heute deutlich, dass Gott bei mir ist. Ich glaube, ich bin dankbarer und demütiger geworden. Es wird sicherlich auch einen Grund dafür geben, dass mich Gott ausgerechnet nach Kelzenberg geschickt hat. Wenn ich sonntags mal nicht zum Gottesdienst kann, dann fehlt mir etwas.“ 

Gerd Heydn im Gespräch mit Jürgen Werth

Wenn man durch Ihre Vita blättert, stößt man in vielen Lebensabschnitten immer wieder auf das Wörtchen „eigentlich“ – eigentlich wollten Sie immer etwas anderes. Wie kam das denn?

„Ja, ich wollte in der Tat eigentlich ursprünglich immer etwas anderes. Eigentlich wollte ich zuerst einen beruflichen Weg bei der Stadtverwaltung einschlagen, dann hatte ich ein Theologie-Studium vor Augen, und als ich schon auf dem Sprung war zur evangelischen Kirchenzeitung „Unsere Kirche“ in Bielefeld, hatte ich eines Tages eine Anfrage vom Evangeliums Rundfunk aus Wetzlar im Briefkasten. Eigentlich wollte ich später immer mal wieder weg vom ERF, und eigentlich wollte ich nie Chefredakteur, geschweige denn Direktor beim ERF werden. Eigentlich…“

Wer oder was hat Ihnen die geplante Tour denn jedes Mal vermasselt?

„Da war dieser liebevolle, geduldige, einfühlsame, aber doch so konsequente Gott. Der zog, drängte und lockte mich, bis er mich immer da hatte, wo er mich haben wollte. Als ich dann mit 22 Jahren von Lüdenscheid weg bin zum ERF nach Wetzlar, war das ein Gefühl für mich, als wenn man heiratet. Das ist ein Gefühl, ein innerlicher Prozess, der nie zu Ende geht – wie in jeder guten Beziehung.“

Wodurch wurde diese Art Glücksgefühl denn bei Ihnen ausgelöst?

„Meine Eltern waren keine Christen. Über den CVJM bin ich mit sieben Jahren in Lüdenscheid mit dem christlichen Glauben in Berührung gekommen. Ich hatte das Glück mit einem tollen Pfarrer, der viel dazu beigetragen hat, dass die Konfirmation zu einem wichtigen Ereignis in meinem Leben wurde. Mit meiner Konfirmation habe ich bei Jesus festgemacht. Das war Mitte der 60er Jahre, der Zeit der Protestsongs in der Musik. Von Freunden wurde ich animiert, Lieder über den Glauben zu schreiben. Mit 16 habe ich erste Texte und Melodien zu Glaubensthemen geschrieben, habe mich dabei mit Akkordeon begleitet, später mit Gitarre. Eine Weichenstellung für mein weiteres Leben.“

Wie sehen Sie, wie erleben Sie das Leben, das Ihnen Gott geschenkt hat?

„Was in Gott vorgeht, werden wir ja nie erfahren. Aber Gott hat nicht die Schöpfung gemacht – und dann aufgehört. Er hat nie aufgehört kreativ zu sein. Jeden Tag erfindet Gott das Leben neu. Lebensgeschichte – für jeden von uns – ist auch immer wieder Schöpfungsgeschichte, hat mir einmal ein Freund gesagt. Das sollten wir begreifen und uns entscheiden, ob wir unser Leben in diesem Sinne ausrichten wollen.“    

Wie sehen Sie heute im Alter als Un-ruheständler Ihr Verhältnis zu Gott?

„Jesus ist immer mit mir unterwegs. Für Gott gibt es kein Gestern-Heute-Morgen. Gott steht über unserer Zeit. Gottes Wahrheit mag uns oft widersprüchlich erscheinen. Aber Gott respektiert uns als Gegenüber. Wir sind keine Computer-Figuren für ihn, die er programmiert hat. Wir sind freie Menschen. Ich glaube nicht, dass Gott nur festgelegte Gleise für uns hat. Was sich nicht ändert, ist Gottes Liebe zu uns. Ich empfinde heute, dass Gottes Barmherzigkeit für mich größer geworden ist. Ich tue heute das, was mir liegt, was Spaß macht und was anderen Menschen weiterhilft im Leben und im Glauben. Also Schreiben, Predigen, Singen.“  

Was meinen Sie denn, was Gott von Ihnen noch erwartet?

„Ich weiß, Jesus ist da. Ich kann ihm sagen, was ich fühle und denke. Und ich bin gern mit ihm unterwegs, weil ich weiß, er meint es gut mit mir. Er ist barmherzig mit mir. Und er will, dass ich barmherzig mit anderen Menschen umgehe – und mit mir selbst, was manchmal am schwersten ist! Mir liegt am Herzen, dass Menschen versöhnlich aufeinander zugehen. Jeder zieht sich nur allzu gerne in seine eigenen Überzeugungen zurück. Wir Christen aber sollten aufeinander zugehen, aufeinander hören. Ich wünsche mir Christen, die zu Brückenbauern werden, weil sie an einen Gott glauben, der selbst der größte Brückenbauer ist. Versöhnung ist irgendwie mein Lebensthema geworden. Da sitzt man manchmal zwischen den Stühlen, aber das scheint inzwischen ein Ehrenplatz geworden zu sein.“

Ihr jüngstes Buch heißt ‚…und immer ist noch Luft nach oben! Entdeckungen beim  Älterwerden‘. Welche Entdeckungen geben Sie dem Leser denn mit auf den Weg?

„Ich sage: Leinen los und leben! Im Alter ist man doch nicht mehr so angebunden. Also, loslassen und freier werden für das Neue, das vor einem liegt, das Neue, das Gott für mich bereit hält – auch noch oder gerade im Alter.“

Sie reisen regelmäßig nach Israel. Warum?

„Ja, seit 1975 reise ich nach Israel, oft zwei Mal im Jahr, in das Land, in dem Gott Geschichte geschrieben hat. Dort erlebt man auf Schritt und Tritt Begegnungen mit der Bibel. Und diese Begegnungen geben mir etwas für meinen eigenen Glauben, fürs Bibellesen, für Predigten. Das Land ist das fünfte Evangelium für mich, das Gott sozusagen in die Landschaft geschrieben hat. Hier bekomme ich immer wieder neue Impulse.“

Martha Seibel im Gespräch mit Gerd Heydn

Die einzige Hundertjährige in unserer Gemeinde. Wie erleben Sie denn heute noch Gemeindeleben und Gottesdienste?

„Über etliche Jahre habe ich mit meiner Familie regelmäßig Gottesdienste in Kelzenberg und Jüchen besucht. Darauf habe ich mich immer die ganze Woche über gefreut. Aber in den letzten Jahren hat mein Körper das nicht mehr zugelassen. Ich habe mein Leben lang in der Bibel gelesen – wenn ich denn eine zur Verfügung hatte. Die Apostelgeschichte war mein Lieblingsbuch in der Bibel. Jetzt hat auch meine Sehkraft so sehr nachgelassen, dass ich nicht mehr selbst lesen kann. Gottesdienste höre ich mir jeden Sonntag in Fernsehübertragungen an, ganz egal, ob ein evangelischer oder ein katholischer Gottesdienst gesendet wird.“

Das heißt also, leider keine weitere direkte persönliche Anbindung mehr an die Kirchengemeinde Kelzenberg?

„Doch, doch. In diesem Frühjahr hat Pfarrerin Gabi Beuscher mit mir hier bei mir zu Hause das Abendmahl gefeiert. Ich hatte Angst, dass der Heiland mich nicht will, weil ich ein sündiger Mensch bin. Danach fühlte ich mich getröstet. Ich werde wach, und alles ist gut. Darüber bin ich so glücklich. Und Frau Beuscher hat mir versichert, dass sie auch weiterhin gerne Abendmahl mit mir feiern möchte.“      

Ein Blick auf Ihren Lebensweg zeigt, dass es ein Weg voller Schmerzen war. Ihre Mutter haben Sie kurz nach Ihrer Geburt verloren, Ihren Vater mit vier Jahren, sind dann von Ihrer 18 Jahre älteren Schwester groß gezogen worden. Wollen Sie uns weitere Stationen aus Ihrem Leben erzählen …?

„Ich habe mit 18 Jahren 1936 geheiratet. Mein Mann Heinrich ist wie ich als Waisenkind aufgewachsen. Beide mussten wir als Kinder arbeiten, um etwas Geld zu verdienen. Mein eigenes erstes Kind ist mit elf Monaten gestorben, das zweite durch eine Lungenentzündung mit drei Jahren. Als die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 in die 

Sowjetunion einmarschiert ist, mussten wir Wolga-Deutsche innerhalb von 24 Stunden unsere Heimat verlassen. Die Familien wurden auseinander gerissen, nach Sibirien deportiert und bei russischen Familien einquartiert. Mein Mann kam in ein Lager. Ich konnte mich entscheiden, ob ich unter oder über Tage in einem Erzbergwerk arbeiten wollte. Ich habe mich für unter Tage entschieden, weil es dort wärmer war. 20 Jahre haben wir in Sibirien gelebt – ohne Kirche, nicht einmal eine Bibel hatten wir. 1961 durften wir Sibirien verlassen und sind in die Region des Altai-Gebirges gezogen.“  

Dann haben Sie ja wahrscheinlich nicht viel von Gottes Führung in jener Zeit verspürt?

„Und doch habe ich nie an Gott gezweifelt, nie den Glauben an Christus verloren. Im Altai haben wir durch die Auskunft eines fremden Mannes eine Information über meine Schwester Marie erhalten, die mich groß gezogen hatte. Und dieser Hinweis führte uns tatsächlich zu ihr. Sie lebte in Kasachstan. Da bin ich dann 1962 mit meiner Familie auch hin. Das war doch Gottes Führung!“

Und in Kasachstan hat sich dann vieles zum Guten gewendet …

„Ja. Dort gab es auch wieder die Möglichkeit, Gottesdienste in einer evangelischen Kirche zu besuchen, und wir hatten christliche Hausgemeinschaften. Ich habe damals zu Gott gebetet, mir die Weisheit zu geben, um seine Wege für mich verstehen zu lernen. Und ich habe sie bekommen und verstanden. Mein Glaube wurde intensiver. Ich fühlte mich nach einer Bibelstunde regelrecht durch den Heiligen Geist bekehrt, bin in jener Stunde aus tiefstem Herzen Christ geworden. Für mich war klar: Ich hatte gefunden, was ich so lange gesucht hatte. Auf einmal war alles gut und neu. Der einzige Wermutstropfen dabei war: Mein Mann empfand nicht gleichermaßen wie ich.“

1993 durften Sie dann mit Ihrer Familie nach Deutschland ausreisen.

„Ja. Wir mussten eineinhalb Jahre auf unsere Ausreisegenehmigung aus Kasachstan warten. Ein Jahr zuvor war schon eine Tochter von mir nach Hochneukirch gekommen. Wir haben zuerst ein Jahr in Alt-Garzweiler gelebt, dann seit 1994 in Neu-Garzweiler und direkt den Anschluss an die evangelische Kirche in Jüchen gesucht.“

Wenn Sie selbst ein Resümee Ihres Lebensweges über 100 Jahre ziehen, wie fällt das aus?

„Trotz allem, trotz meines wirklich steinigen Weges – ich bin zufrieden und glücklich, dass ich Gott gefunden habe. Ich bete jeden Morgen und jeden Abend vor und nach dem Essen. Abends singe ich auch. Ich würde am liebsten abends beten und singen – und dann eines Morgens nicht mehr aufwachen. Der Heiland ist ja da und nimmt mich mit. Der lässt mich nicht im Stich!“

Charles Rodrigo Hackbarth im Gespräch mit Gerd Heydn

Herzlich willkommen in der Gemeinde Kelzenberg! Wir freuen uns auf einen neuen ‚Gemeindebauer‘, der die Zukunft in und für Kelzenberg mitgestalten will. Wie und wann treten Sie Ihren ‚Dienst‘ in Kelzenberg an?‘

„Ich freue mich auf meine neue Aufgabe in Kelzenberg. Mein Studium im Johanneum endet mit einem Anerkennungsjahr, das mit dem 1. August anläuft. Schwerpunkt meiner Arbeit in Kelzenberg wird zum einen die Jugend- und Konfirmandenarbeit sein. In diesem Sinne begleite ich auch direkt die diesjährige Jugendfreizeit Mitte August nach Norwegen. Aber ich brauche Gemeinde-Vielfalt und -Leben und werde da mitgestalten: Gottesdienste, Presbyterium, Hauskreise, Schulgottesdienste… Das ist auch der Wunsch des Presbyteriums.“

Ihre Frau Valerie ist Sozialpädagogin. Wie hat der Brasilianer mit deutschen Wurzeln seine deutsche Frau kennen gelernt? In Deutschland oder Brasilien?

„Valerie ist 2008 für ein freiwilliges soziales Jahr in meine Heimatgemeinde nach Brasilien gekommen. 2010 hat sie noch einmal ein Jahr bei uns verbracht, um ein Studienjahr an einer Bibelschule, ähnlich dem Johanneum in Wuppertal, zu absolvieren. Am 4. Februar 2011 haben wir in Brasilien standesamtlich geheiratet, am 10. Februar 2011 sind wir nach Deutschland geflogen, und am 19. Februar 2011 haben wir in Hammersbach bei Hanau, der Heimat meiner Frau, kirchlich geheiratet.“ 

Karriere-Sprung, Karriere-Knick oder einfach der Sprung in die Arme Gottes. Wie würden Sie ihren sprunghaften Wechsel von Betriebswirtschaft in den theologischen Bereich in Ihrer beruflichen Ausrichtung beschreiben?

„Das Betriebswirtschaftsstudium war zwar mein Ziel, um das Unternehmen meiner Mutter einmal zu übernehmen. Aber es war nie mein Herzenswunsch. Nach der Heirat mit Valerie habe ich mein Studium an der FH in Frankfurt fortgesetzt, weil mein brasilianischer Abschluss in Deutschland nicht voll anerkannt wurde. Ich hatte mich schon bei etlichen Unternehmen in Deutschland beworben. Im Urlaub 2014 in Brasilien standen aber auch immer noch unsere Überlegungen, 2015 nach Brasilien zurückzukehren und die Firma meiner Mutter zu übernehmen. Wir waren überzeugt, dass Gott uns schon zeigen wird, ob das der richtige Weg ist. Er war es nicht, wie sich bald im Gespräch mit meiner Mutter herausstellte. Unsere Vorstellungen von der Firmenführung stimmten einfach nicht überein.“

Das war Ihr Abschied von der Geschäfts-Welt. Aber was hat Sie letztlich in die Arme Gottes getrieben?

„Eine verrückte Geschichte mit einer Brasilianerin in Deutschland, die kein Wort deutsch sprach, aber Menschen in Deutschland missio-

nieren wollte. Das einzige Wort, das für einen Menschen ohne portugiesische Sprachkenntnisse verständlich war – das war Jesus. Aber wie. Aus dem Mund dieser Frau, dieser verrückten Frau, sprach pure Jesus-Liebe. Jesus hat dich lieb! Für mich hat Gott durch diese Frau ganz klar den Brief geschickt, auf den ich im Grunde seit zehn Jahren gewartet hatte: Gott will, dass wir, Valerie und ich, hauptamtlich in den Dienst für Gott treten! Das war im April 2015, und es hatte uns wie der Blitz getroffen.“

Sie waren aber doch schon in Ihrer brasilianischen Heimat gläubiger Christ…

„Ja. Jeder Brasilianer glaubt an Gott, aber nur wenige haben eine Beziehung zu Gott. In meiner Kindheit und Jugend hat meine Oma eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Sie hat aufgrund des starken beruflichen Engagements meiner Mutter die Rolle der Mutter und Erzieherin für mich übernommen, mir zur Konfirmation auch die erste Bibel geschenkt. Ich habe mich auch stark in unserer Gemeinde eingebracht, in der Jugendarbeit mitgemacht, im Kirchenchor und in der Band. Als ich 16 Jahre alt war, hat Jesus mich zum Glauben berufen. Seitdem lebe ich mit Jesus.“

Und was hat Ihre Mutter zu Ihrer beruflichen Kehrtwende gesagt…?

„Meine Mutter war in der Tat noch eine echte Hürde für mich. Ich dachte, wenn ich ihr sagen würde, ich will lieber Arzt werden oder Anwalt oder in der Landwirtschaft mein Lebensglück suchen – ich liebe nämlich Hühner –, das würde sie ja noch verstehen. Als ich ihr dann über tausende Kilometer meinen Entschluss am Telefon mitteilte, hörte ich erst betretenes Schweigen und dann leises Weinen. Und dann sagte sie: ‚Ich bin stolz, dass Du das machst!‘ Für mich bedeuteten diese Worte den endgültigen Absprung hin in den hauptamtlichen Dienst.“

Was hat sich denn für Sie in Ihrem Leben geändert?

„Als ich endlich Gottes Berufung in den hauptamtlichen Dienst verstehen und akzeptieren konnte, hat sich einiges verändert. Ich habe das Gefühl, dass er gerne mit mir unterwegs ist, dass er mich gerne mal überrascht und noch lange nicht fertig mit mir ist. Ich glaube, dass jeder einzelne Mensch von Gott gewollt und geliebt ist. Aber nicht jeder weiß es. Darüber will ich die Menschen informieren. Das ist Evangelisation. Und in Kelzenberg ist jeder Gottesdienst Evangelisation.“ 

Wie sind Sie denn überhaupt auf Ihrem Ausbildungsweg für den hauptamtlichen Dienst ausgerechnet auf Kelzenberg gekommen?

„Durch den ehemaligen Jugendreferenten in unserer damaligen Gemeinde Nidderau bei Hanau bin ich auf das Johanneum in Wuppertal aufmerksam gemacht worden, habe dort ab September 2015 ein dreijähriges Studium begonnen, das jetzt mit dem sogenannten Anerkennungsjahr abgeschlossen wird. Im Rahmen des Studiums waren wir Anfang Februar dieses Jahres mit 15 Leuten während unserer Hospitationswoche in Kelzenberg. Gabi Beuscher hat die Arbeit in Kelzenberg vorgestellt und dabei in einem Nebensatz erwähnt, dass sie und ihr Mann in absehbarer Zeit in Rente gehen werden. Da habe ich spontan in den Raum geworfen: ‘Wo kann ich mich bewerben?‘. 

Wodurch fühlten Sie sich denn zu dieser spontanen Willensäußerung getrieben?

„Mich hat fasziniert, wie Gabi und Bodo Beuscher von ihrem Glauben sprachen. Ich denke, wenn ich mit 62 Jahren noch diese Freude und diese Leidenschaft an der Verkündigung mitbringe – dann habe ich es geschafft.“

Gerd Heydn

„Ich bin sicher, Gott spricht mit mir“ – Sven Zumbruch im Gespräch mit Gerd Heydn

Hat der Glaube in Ihrem Leben schon immer eine Rolle gespielt?

„Das war bei mir eher ein bewegtes Auf und Ab. Ich bin als Kleinkind evangelisch getauft worden. Aber der Glaube war in meinem Elternhaus eigentlich nie ein Thema. Da wurde nicht drüber gesprochen. Zur Konfirmation meiner älteren Schwester kam es sogar zu einem Eklat, der meinen Vater zum Austritt aus der Kirche veranlasste. Meine Schwester hatte im Konfirmandenunterricht in Rheydt die kindliche Frage gestellt, wie es denn sein könne, dass eine Jungfrau ein Kind bekommt. Der offensichtlich schockierte Pfarrer verwies sie daraufhin sofort des Unterrichts und drohte, sie nicht zu konfirmieren. Die Konfirmation erhielt meine Schwester dann doch – allerdings in Odenkirchen.“

Und Sie? Mussten Sie in Folge ganz auf die Konfirmation verzichten?

„Nein, ich habe meine Konfirmanden-Zeit mit viel Freude 1992 in Kelzenberg erlebt und bei Jesus festgemacht. Aber da fehlte mir noch der nötige Tiefgang. Ich war damals der Meinung, dass ich meinen Glauben auch im stillen Kämmerlein ganz gut pflegen könnte. Die Kirche, dachte ich, brauche ich nicht unbedingt dafür. Ich habe die Jugendfreizeit im Jahr meiner Konfirmation in Spanien noch mitgemacht – aber dann ist der Kontakt zur Gemeinde in Kelzenberg erst mal für Jahre abgerissen. Ich hatte als Jugendlicher wohl mehr andere Dinge im Kopf – Fußball, Borussia Mönchengladbach, Mädchen. Das haben mir dann im Angang zu meinem Glaubenskurs 2016 – also nach 24 Jahren – noch einmal meine Eintragungen in einer Kladde vor Augen geführt, die uns Pfarrer Bodo Beuscher auf der Jugendfreizeit in Spanien als eine Art Glaubens-Tagebuch gegeben hatte. Da sind viele schöne Erinnerungen hochgekommen.“

Aber auch Erinnerungen, die Sie nachdenklich gestimmt haben?

„Mir wurde dabei vor meiner Anmeldung zum Glaubenskurs auch bewusst, dass ich von alten Freundschaften enttäuscht war, weil mir vieles zu oberflächlich in meinem direkten Umfeld erschien. Ich wünschte mir, Menschen mit mehr Tiefgang und Ernsthaftigkeit zu treffen.“

Wie sind Sie dann doch noch mal auf den Geschmack gekommen, Ihre eingeschlafene Beziehung zu Jesus wieder neu zu beleben?

„Auslöser war die Diskussion mit meiner Frau über die anstehende Taufe unserer Kinder. Das war allerdings keine wirkliche Glaubensfrage, sondern mehr eine gesellschaftliche in unserer Abwägung für unsere Kinder. Man macht es halt! Meine Frau ist katholisch getauft, hatte nicht die geringste Beziehung zur evangelischen Kirche, aber im Grunde auch nicht zu Gott. Ich wiederum hatte mit der katholischen Kirche nichts am Hut, habe dafür aus meiner Erinnerung von meiner Jugendzeit von Kelzenberg geschwärmt. Da wir nicht übereinkamen, wollten wir schließlich die Entscheidung per Münzwurf herbeiführen. Die katholische Seite gewann. ‚Das kann ich mit gutem Gewissen nicht verantworten‘, hielt ich meiner Frau dann aber sofort entgegen und forderte: ‚Schau dir Kelzenberg erst einmal an‘.“

Und Sie schauten dann tatsächlich gemeinsam mit Ihrer Frau in Kelzenberg vorbei, um bessere Überzeugungsarbeit für eine evangelische Taufe Ihrer Kinder leisten zu können?

„Ja. Wir erlebten erstmals gemeinsam einen Gottesdienst in Kelzenberg mit einer tollen, gut zu verstehenden Predigt, schönen Liedern und einer einnehmenden Gemeinschaftsstimmung in der Kirche – meine Frau war begeistert. Und damit war unsere Entscheidung für die Taufe unserer Kinder nach langem Hin und Her auch gefallen. 2014 sind unsere beiden Kinder von Gabi Beuscher in Kelzenberg getauft worden. Auch dabei fühlten wir uns wieder von Ansprache und Stimmung sehr stark angesprochen. Wir nahmen die Verpflichtung als Eltern an, unsere Kinder nach der Taufe für Gott und Jesus anzuhalten und weiterzuführen. Und die Taufe hatte auch für meine Frau und mich weiterreichende Folgen.“

Welche?

„2016 habe ich einen Glaubenskurs besucht, ein Jahr später auch meine Frau. Erst mit dieser Stufe in unserer Glaubensentwicklung ist eine wahrhaftige Beziehung zu Jesus entstanden und gewachsen. Meine Frau hat es durch den Glaubenskurs regelrecht gepackt! Wir sind beide gewachsen, jeder für sich als Individuum, aber auch wir beide in der Gemeinschaft als Ehepaar und Eltern. Die Fortsetzung erleben wir jetzt gemeinsam in einem Hauskreis. Die Gemeinde ist für uns wichtig geworden. Wir fühlen uns willkommen und aufgenommen – und geeint. Unsere Kinder gehen gerne in den Kindergottesdienst.“

Welche Auswirkungen nehmen Sie denn heute in Ihrer Gottes-Beziehung für Ihr tägliches Leben wahr?

„Ich glaube, nach meinem Glaubenskurs haben sich bei mir Augen und Ohren, aber auch mein Herz für Gottes Wort geöffnet, in welcher Form auch immer. Beispiele: Auf der Rückfahrt von unserem Urlaubsziel 2017 in Kroatien waren wir uns nicht über die Route im Klaren, hatten aber schon die Übernachtung für einen Zwischenstopp wie auf der Hinreise gebucht. Das hätte aber einen größeren Umweg bedeutet. In unsere Überlegungen hinein hörten wir aus dem Radio einen Song der norwegischen Popgruppe a-ha ‚Stay on these roads‘, bleib auf diesen Wegen, Sekunden später sahen wir ein Autobahnschild mit dem freundlichen Gruß ‚gute Fahrt‘. Für mich war klar: Gott redet mit uns.“

Weitere Beispiele für Ihre persönlichen Erlebnisse…

„Auf dem Nachhauseweg von einem Hauskreis-Abend, bei dem wir über den strafenden Gott im Alten Testament diskutiert hatten, habe ich gebetet: ‚Gott, lass nicht zu, dass meinen Kindern etwas passiert!‘ Aus dem Radio ertönte von Erasure ‚Always I wanna be with you‘, ich möchte immer bei dir sein. Und meine Sorgen waren verflogen. Beispiel 3: Nach dem Abschlussgottesdienst zum Glaubenskurs meiner Frau wollte ich mich in einem kurzen stillen Gebet im Auto noch auf dem Parkplatz hinter dem Gemeindehaus für den schönen Abend bedanken. Da hörte ich aus dem Radio von Bruno Mars ‚Count on me‘, du kannst auf mich zählen, wenn du dich jemals in der Dunkelheit verläufst und du nichts sehen kannst, werde ich das Licht sein, das dich führt, ich werde um die Welt segeln, um dich zu finden. Und noch ein Beispiel zum Thema ‚Hören‘ und ‚Sehen‘: Ich war wütend über einen Mitarbeiter von mir, wollte ihm eine ordentliche Standpauke halten. Auf der Fahrt zum Büro durch Giesenkirchen habe ich aus den Augenwinkeln auf einem Werbeplakat den Satz gelesen: ‚Mach kein Drama daraus…‘. Ich hab es tatsächlich auch gelassen mit der Standpauke, und es hat sich alles wieder zum Guten gewendet, Ich bin sicher: Gott spricht mit mir, und ich bin dankbar, dass ich seine Ansprache wahrnehmen kann.“

Gerd Heydn im Gespräch mit Gabriele Jonas

Sie sind jetzt an den Ausgangspunkt einer langen, weiten Reise in Ihrem Leben zurückgekehrt – nach Jüchen. Hätten Sie Ihr Leben denn nicht einfacher gestalten können?

„Ja, vielleicht. Aber es war wohl Gottes Weg für mich. Heute weiß ich, dass hier in Jüchen, in der Gemeinde Kelzenberg mein Platz ist. Hier bekam ich Boden unter die Füße. 20 Jahre war ich auf der Suche nach Gott.“

Welche Erfahrungen haben Sie mit dem christlichen Glauben in Ihrer Jugend gemacht?

„Im Religionsunterricht der Schule hatte mich der Satz angepackt: Gott liebt Dich! Nachdem ich bereits ein Jahr Konfirmanden-Unterricht in Mönchengladbach gehabt hatte, zogen wir nach Jüchen um. Der Pfarrer in Jüchen hat dieses erste Jahr jedoch nicht anerkannt, ich musste noch mal von vorne anfangen. Diese Zeit in Jüchen war für mich eine Tortur. Der Umgang mit den Konfis widersprach meinem christlichen Verständnis. So durfte man mit Menschen nicht umgehen. In der Woche vor meiner Konfirmation drohte mir der Pfarrer dann, mich nicht zu konfirmieren, weil ich seiner Meinung nach den Vier-Zeiler, den ich während des Konfirmanden-Gottesdienstes vortragen sollte, nicht laut genug aussprach. Was sollte ich machen – eine lautere Stimme hatte ich nicht. Damals habe ich gebetet: Gott ich verlasse Dich nicht, aber ich verlasse die Institution Kirche. Die Konfirmation fand zwar statt, aber danach war ich allerdings für gut 20 Jahre weg vom christlichen Glauben, habe keine Kirche mehr besucht. Mit 21 Jahren habe ich Jüchen verlassen und meine Reise quer durch Deutschland angetreten.“

Welche Wünsche, welche Vorstellungen hatten Sie denn damals von Ihrem Leben – und an IHREN Gott?

„In meinem erwachsenen Leben ging es mir wie vielen anderen Menschen, die die Kirche verlassen hatten, jedoch weiterhin an Gott glaubten. Ich besuchte jede Menge Seminare, begann, Glauben auch außerhalb des christlichen zu suchen. Spiritualität machte einen wichtigen Teil meines Lebens aus. Das alles unter großem zeitlichen wie finanziellem Aufwand. Wenn ich dann aber wieder nach Hause kam, wo immer das gerade war, fühlte ich mich allein. Gott blieb für mich auf Distanz, trotz der Gebete und regelmäßigen Meditationen. Auf meiner vorletzten Station 2011 in der Nähe von Karlsruhe fühlte ich plötzlich eine tiefe Traurigkeit in mir. Ich resümierte für mich: Ich war allein, den vielen Freunden fehlte für Gemeinsamkeiten die Zeit. Der Job lief nicht mehr so, meine Familie fehlte mir, und meine Beziehung zu Gott gelang auch irgendwie nicht. Ich hatte die Nase voll, begann zu beten, ja ich schimpfte regelrecht mit Gott: ‘Herr, was soll das? Du lässt mich im Stich, so will ich nicht weiterleben. Ich brauche Leute um mich herum, Leute, die meine Spiritualität teilen und stärken.‘ Ich habe regelrecht Forderungen in meinem Gebet an Gott gestellt: 1. eine Freundin, die mit mir auf dem gleichen Weg ist, 2. einen Job, der mich ernährt. 3. eine Wohnung, die ich auch bezahlen kann, wenn mal wieder ein Projekt ausläuft, und 4. eine spirituelle Gemeinschaft, die meinen Lebensraum bildet.“

Und – hat Sie Gott erhört…?

„Gemessen an der Zeit, die ich durch mein Leben geirrt bin, ging es rasch. Im August 2012 bin ich aus dem Karlsruher Umfeld nach Jüchen heimgekehrt. Meine alte Freundin Eva zog vier Wochen vor meinem Umzug vom 40 Kilometer entfernten Linnich nach Aldenhoven. Ich fand eine schöne, preiswerte Wohnung und einen festen Job. Blieb die Suche nach einer spirituellen Gemeinschaft. Auf die stieß ich im Frühjahr 2014 auf einem Spaziergang über die Felder nach Kelzenberg. Da stand ich staunend vor dem großen Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde. Der damalige Hausvater Paul-Heinz Müschen zeigte mir bereitwillig das Gebäude und teilte mir mit, dass eine Meditationsgruppe existiere.“

Wie ging’s dann weiter?

„Meine Freundin Eva und ich hatten ja einen Meditationskreis gesucht. Und den fanden wir im Stillehauskreis von Kelzenberg. Das war die von mir über Jahre sehnlichst gewünschte spirituelle Gemeinschaft. Bei unserem ersten Gottesdienstbesuch in Kelzenberg traf mich wieder der Satz, der mich schon als Kind regelrecht angesprungen hatte: Gott liebt Dich!. Ich hatte das Gefühl, dass mich Gott ausdrücklich hierher nach Kelzenberg geführt hatte. Durch den Glaubenskurs, den ich Ende 2014 besuchte, verspürte ich erstmals in meinem Leben eine lebendige Gottesbeziehung – die frühere Distanz verschwand, Jesus trat in meinem Leben an meine Seite. Ich war zu Hause angekommen.“

Und doch sind Sie noch einmal „ausgebrochen“, obwohl schon am Ziel Ihres langen Weges angekommen?

„Ich wollte herausfinden, wie es ist, das Leben mal für ein Jahr völlig in Gottes Hände zu legen, mich ihm ganz zuzuwenden. Ende Oktober 2017 habe ich meine Wohnung in Jüchen untervermietet und wollte mich in einem christlichen Haus in der Nähe von Kronach in Unterfranken zurückziehen mit vier Stunden Meditation am Tag und vier Stunden Arbeit. Die Hausgemeinschaft bestand aus sechs Gottsuchenden und zwei Leitern, davon ein Pater für die Kontemplation. Das konträre Verhalten der Leitung zu ihren Worten erinnerte mich an die Stelle in der Bibel, in der von Pharisäern und Schriftgelehrten die Rede ist. Vier Wochen habe ich gebraucht, um festzustellen: So nicht! Ich fühlte mich in einer unangemessenen Machtstruktur verfangen wie ein handlungsunfähiges Kleinkind.“

Also Abbruch des „Experimentes“ nach wenigen Wochen. Aber dann haben Sie doch – zumindest vorübergehend – heimatlos auf der Straße gestanden?

„Kurz vor Weihnachten wurden wir, drei der sechs Hausbewohner, von einem auf den anderen Tag vor die Tür gesetzt, weil wir unseren Unmut gegen die Hausleitung artikuliert hatten. Wenn man so will, war es für mich nach meiner Konfi-Zeit in Jüchen der zweite Kirchen-Rausschmiss. Meine Seele war wieder mal angeknackst und musste erst wieder gerade gebogen werden. Die Stillehauskreis-Mitglieder in Kelzenberg haben mich wunderbar aufgefangen, mir neuen Mut und neue Kraft gegeben. Tageweise haben Sie mich beherbergt. Am 15. Dezember konnte ich vorübergehend beim Leiter des Stillehauskreises einziehen.“

Ende gut, alles gut…?

„Ich hoffe. Zumal ich in dem Stillehaus meinen Lebenspartner Bernhard gefunden habe. Wir wollen den Weg mit Jesus Christus weitergehen, um im Glauben zu wachsen. Ja zu Jesus Christus zu sagen, ist ein wichtiger Punkt und stärkt auch die Beziehung zu meinem Partner. Das Beispiel des Stillehauses steht für mich für die alten Machtstrukturen der Institution Kirche. Ich denke, der Weg, der in Kelzenberg eingeschlagen wurde, ist der richtigere. Am liebsten würde ich die Gemeinde Kelzenberg ‚klonen‘ für alle Menschen, die von Gottes Bodenpersonal enttäuscht worden sind.“

Gerd Heydn

Gerd Heydn im Gespräch mit Traudel Schaufelberger

Ihr Mann hat mir vor mehr als zehn Jahren im Gespräch für ‚Typisch Kelz‘ gesagt, dass Sie beide in Ihrem Leben immer von der Sehnsucht nach einer lebendigen Gemeinde getrieben waren. Und die hatte sich vor rund 25 Jahren in Kelzenberg erfüllt…?

„Ja, das kann ich uneingeschränkt auch für mich unterstreichen: Kelzenberg war und ist die wichtigste Station in meinem Leben! Ich habe erst in Kelzenberg verstanden, dass Jesus sein Leben hingegeben hat, um mir Leben zu schenken. Eigentlich bin ich erst in Kelzenberg zum ‚richtigen‘ Glauben gekommen. Früher habe ich immer gedacht, ich müsse halt mit einem ordentlichen Lebenswandel durch die Welt gehen. Ich war sicherlich ein frommer, aber kein bekehrter Mensch. Das habe ich erst in Kelzenberg erfahren, vor allem wie Glauben gelebt wird.“

Wie sah Ihr geistliches Leben denn früher aus?

„Wir waren beide schon immer in der Gemeindearbeit engagiert, vor allem in den 60er Jahren zu Beginn unserer Ehe in Koblenz. Ich habe mit meinem Mann schon immer gemeinsam gebetet und gesungen. Wir hatten uns mit den Jahren eine Kette von Reinigungsgeschäften aufgebaut. Die haben wir 1972 aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben und weit unter Wert verkaufen müssen.“

Und haben Sie in dieser Situation mit Gott gehadert?

„Nein. Wir haben schon selbst die Fehler bei uns erkannt. Die Expansion der Geschäftskette war einfach zu viel des Guten. Nein – im Gegenteil: Gott hat uns bewahrt. Viele von Rolfs Kollegen aus der Branche sind durch den täglichen Kontakt mit den Reinigungschemikalien frühzeitig an Krebs gestorben. Mit Gottes Hilfe sind wir wieder auf die Beine gekommen.“

Welchen Weg ist Gott denn in der Vergangenheit mit Ihnen gegangen, hat er Fehler in Ihrem Leben angesprochen?

„Da war ein Ereignis in meinem Leben, das gut 60 Jahre zurückliegt. Und das hat mich wieder eingeholt. Wir hatten damals in Koblenz ein Ehepaar in unserem Gebetskreis – er Amerikaner, sie Deutsch-Jüdin – dem ich durch meine Beziehungen Prozente in einem Einrichtungshaus für einen Großeinkauf vermitteln konnte. Diese Prozente habe ich damals aber nicht in vollem Umfang weitergegeben. Vor zehn Jahren schoss mir diese Begebenheit im Traum wieder in den Kopf und sagte mir, dass ich damals wohl falsch gehandelt habe. Wenige Tage später erfuhr ich, dass diese Frau aus den USA mal wieder in Deutschland sei. Ich habe den Kontakt zu ihr gesucht, sie nach Steinforth eingeladen und um Vergebung für mein 50 Jahre zurückliegendes Verhalten gebeten.“

Wie wir vergeben unseren Schuldigern…

„Ja. Diese Frau hat mir vergeben. Sie hielt damals in den USA wie in Deutschland Vorträge, hat Zeugnis gegeben von ihrem Gott. Sie war nach dem Tod ihres Mannes in finanziellen Schwierigkeiten, und ich konnte ihr ein wenig helfen. Ich selbst war froh, dass ich diesen Weg von Gott gezeigt bekommen habe. Für Rolf und mich hat Jesu Wort vom ‚Geben ist seliger als Nehmen‘ durchaus Sinn gemacht. Denn alles, was wir haben und sind, verdanken wir Gott.“

Das trifft auch noch auf Ihre aktuelle gesundheitliche Situation zu, auch bei Ihrem Mann?

„Gott führt uns diesen Weg. Er geht mit uns. Es ist allerdings schwer, mit ansehen zu müssen, wie der Partner durch die fortschreitende Demenz immer weniger wird. Angefangen hatte bei Rolf alles vor ungefähr drei Jahren, als er sich bei einem Sturz zuhause einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte. Wenn ich ihn heute besuche, spreche, bete und singe ich mit ihm. Wie wunderbar, dass niemand ihn aus Gottes Hand reißen kann! Was mir allerdings fehlt, ist der Partner, mit dem ich alles besprechen, ordnen und regeln kann. Rolf war immer der administrative Teil in unserer Partnerschaft.“

Und Sie selbst…?

„Ich war im vergangenen Jahr mehrmals im Krankenhaus. Wegen Gefahr eines neuerlichen Schlaganfalls kann ich nicht mehr Autofahren, bin also in meiner Mobilität auf dem Lande stark eingeschränkt und auf die Hilfe meiner Kinder und lieber Freunde angewiesen. Ich hatte auch schon zweimal einen Anlauf unternommen, unser Haus in Steinforth aufzugeben, und wollte mir eine kleinere Wohnung nehmen. Aber vielleicht war es von Gott noch nicht so gewollt.“

Wie läuft denn heute Ihr Tag mit Gott ab…?

„Morgens stehen die Losung und Bibellesen für mich im Vordergrund, am Abend das Gebet und vor allem Fürbitten. Fürbitten für andere ist ein fester Bestandteil in meinen Gebeten. Früher, als Rolf und ich noch fest im Geschäft standen, ist es uns manchmal schwer gefallen, Beruf und Gemeindearbeit zu verbinden. Aber Gott hat uns reich beschenkt. Und ich finde es außergewöhnlich, wie viel Liebe ich jetzt von Menschen aus den Reihen unserer Gemeinde zurückbekomme.“

Gerd Heydn im Gespräch mit Alexandra Habbig

Zurück zu den Wurzeln. Nach 21 Jahren sind Sie mit Ihren Kindern aus Malaysia in Ihre alte Heimat zurückgekehrt. Was hat Sie dazu bewogen?

„Die Gründe für die Heimkehr nach Deutschland und auch der Zeitpunkt hängen tatsächlich unmittelbar mit den Bedürfnissen unserer Kinder zusammen, da wir nach all den Jahren nicht wirklich Fuß fassen konnten in Malaysia als Heimat. Wir sind trotz aller Liebenswürdigkeit der Menschen und ihrer Willkommenskultur immer Ausländer und außen vor in der eigentlichen Gesellschaft Malaysias geblieben. Eigene Ansichten, vielleicht sogar Kritik an Land und Leuten sind von Außenstehenden nicht erwünscht. Hinzu kamen Vorurteile gegenüber den Kindern als Adoptierte. Derartige Vorurteile sind schwerwiegender als hier in Deutschland. Außerdem sind unsere Kinder als Ausländer mit internationalen Kontakten durch Schule oder Freunde größtenteils Fremde im ‚eigenen‘ Land geblieben. Da haben wir uns entschieden, in Deutschland sesshaft zu werden, solange es für uns noch machbar ist. Ich selbst war einfach auch Malaysia-müde, wollte dort nicht sterben. Ich hoffe, dass es im nächsten Jahr auch mit der Rückkehr meines Mannes klappt.“

Sie haben vier Kinder in Malaysia adoptiert…

„Ja, alle vier Kinder haben wir unmittelbar nach deren Geburt adoptiert. Alle vier haben ethnische indische beziehungsweise chinesisch-indische Wurzeln mit zunächst malaysischer Staatsangehörigkeit, nach Adoption deutsche. Lucas ist jetzt 21, Laura 20, Hannah 17 und Elisa 12. Die beiden Jüngsten gehen jetzt hier in Hochneukirch und Rheydt zur Schule. Schon als ich 16 war, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, dass es auf der Welt so viele Kinder ohne Eltern gibt. Also warum noch mehr Kinder in die Welt setzen…? Allerdings wollte ich später genau das. Gott hatte jedoch andere Pläne. Auf der beruflichen Zwischenstation meines Mannes in Nürnberg hatten wir einen ersten vergeblichen Antrag auf Adoption eines Kindes gestellt.“

Sie selbst haben auch eine bewegte Kindheit und Jugend hinter sich. War Ihr Glaube in  jener Zeit noch auf „Tauchstation“?  

„Meine Eltern  waren nicht religiös, keine Kirchgänger. Ich fühlte mich zuhause nicht verstanden, konnte mit meinen Eltern nicht über den Glauben sprechen. Zwischen meinem zwölften und 25. Lebensjahr habe ich permanent unter Essstörungen gelitten, zunächst unter Anorexie, Appetitmangel, und später Bulimie. Durch die Essstörungen war ich ein körperliches Wrack. In der Schule bin ich als Kind gemobbt worden, habe die Schule schließlich in der zehnten Klasse auf dem Gymnasium abgebrochen. In der Pubertät bin ich in die esoterische Ecke abgerutscht. Neben den Essstörungen kamen Albträume und Psychosen dazu. Ich war damals wirklich ziemlich durch den Wind und kaputt. Aber auch in meinen Albträumen habe ich zu Gott gebetet: Hilf mir! Ich habe immer geglaubt, da ist jemand.“

Aber trotzdem sind Sie nach Ihrer Hochzeit gemeinsam mit Ihrem Mann aus der Kirche ausgetreten. Warum? Und wie wurde der Umschwung in Ihrem Leben eingeleitet?

„Das waren – dumme – steuerliche Gründe. Ich hatte zum damaligen Zeitpunkt keine Ahnung von der Bibel, nur meinen kindlichen Glauben. Den Umschwung brachten Zeugen Jehovas, die 1991 in München eines Tages vor meiner Tür standen. Ich fühlte mich damals in München sehr isoliert, litt immer noch unter den Essstörungen, brauchte Menschen zum Sprechen. Die Zeugen Jehovas waren die ersten, die mir klar gemacht haben, was wirklich wichtig ist für unser Leben. Sie haben mir gesagt: ‚Du musst die Bibel lesen. Das ist Gottes Wort, da wirst du alles finden.‘ Und dann habe ich tatsächlich angefangen, die Bibel zu lesen. Bis heute habe ich es geschafft, die Bibel dreimal komplett zu lesen, Altes wie Neues Testament, komplett von vorne bis hinten. Und dann passierte es während des Bibellesens – eine Stimme sagte mir: ‘Es ist vorbei, du musst es nicht mehr tun.‘ Ich habe gedacht, das kann gar nicht sein. Aber es war vorbei mit meiner Essstörung.  Vom Tag an habe ich mich nicht mehr übergeben müssen. Trotzdem bin ich nicht den Zeugen Jehovas beigetreten. Mit ihrer Endzeit-Theorie konnte ich mich nicht anfreunden. Außerdem hätte ich das Rauchen aufgeben müssen.“

Und das ist Ihnen zu schwer gefallen?

„Ja, damals schon. Mein Mann und ich, wir waren beide sehr abhängig vom Rauchen. Davon sind wir erst in Malaysia nach vielen vergeblichen Versuchen losgekommen. Wir haben eines Abends auf dem Bett gesessen, uns an den Händen gehalten, und mein Mann hat gebetet: ‚Hier sind wir Vater vor Dir, hilf uns, Vater, befreie uns vom Rauchen. Nach diesem Gebet haben wir nicht mehr geraucht. Ich empfand das wie ein Wunder.“

Wie konnten Sie denn Ihren neu gewonnenen Glauben in Malaysia pflegen?

„Zwei Jahre nach unserem Umzug nach Kuala Lumpur haben wir 1996 Kontakt zu einer traditionellen amerikanischen Kirche bekommen. Die Frau des Pastors lud uns in ihre Gemeinde und gezielt in ihren Chor ein. Ich ging in einen Hauskreis nur für Frauen, lernte gemeinsam zu beten und mein Leben bewusst an Jesus abzugeben. Ich wusste bis zu jenem Tag gar nicht, dass man das kann. Eine Filipina in diesem Hauskreis hat mich regelrecht aufgeweckt. Diese Frau stand für meinen Wendepunkt im Leben. Mit dieser Frau habe ich auch für ein Kind gebetet. Ein halbes Jahr später erhielt ich den Anruf, dass ein neugeborenes Kind zur Adoption freigegeben worden ist. 1996 sind wir der amerikanischen St. Andrews Kirche beigetreten, 1998 habe ich mich mit 34 Jahren in einer internationalen Kirche noch einmal als Christin taufen lassen.“

Und jetzt schließt sich der Kreis für Sie in Kelzenberg?

„Ich hoffe es. Wenn es meinem Mann gelingt, sein berufliches Engagement in Malaysia zu lösen, wollen wir nächstes Jahr beide der Gemeinde in Kelzenberg beitreten. Falls nicht, kommt für mich und die Kinder ein erneuter Umzug nach Malaysia in Betracht. Zwei Haushalte in Odenkirchen und Kuala Lumpur – Tochter Laura studiert außerdem in London – würden bedeuten: Unsere finanzielle Rechnung geht auf Dauer nicht auf. Ende 2015 bin ich erstmals zum Gottesdienst nach Kelzenberg  gekommen und habe mich ziemlich unmittelbar danach einem Hauskreis angeschlossen. Dieses Jahr nehme ich außerdem am Glaubenskurs teil. Hier in Kelzenberg finde ich mich wieder und erkenne, mein Leben war und ist eine einzige Inszenierung von oben.“

Gerd Heydn im Gespräch mit Wilfried Elshoff

Vom Banker zum Diakon – das hat ja fast schon einen Hauch von Saulus, der zum Paulus wird. Ein krasser Umschwung in Ihrem Leben. Wie kam es dazu?

„Na, der Vergleich ist wohl ein wenig überzogen. Ein gläubiger Mensch war ich eigentlich von Kindes Beinen an, so auch in meinem Elternhaus katholisch erzogen. Ich glaube, ich war immer schon ein Suchender in meinem Leben. Und ich habe immer schon eine Glaubensverbundenheit, vielleicht auch einen besonderen Blick für das Seelenleben der Menschen in mir gespürt. Auch meine Eltern hätten für mich erkennen können, dass meine Liebe in den seelsorgerischen Bereich ging. Aber in einer Familie mit vier Kindern musste jeder Einzelne funktionieren. Der Einzelne zählte da nicht so sehr. Meine Familie ist damals mit dem Strom der Zeit geschwommen, Sicherheitsdenken war angesagt. Speziell bei der Berufswahl. Und in diesem Sinne hatte meine Mutter nach dem Abitur gesagt: Mach Banker! Sicherheit, Geld verdienen, etwas werden…“

Und so sind Sie dann in die ganz normale berufliche Laufbahn ‚hineingeschliddert‘, ohne es eigentlich wirklich zu wollen.

„Natürlich hätte ich mein Leben viel früher selbst in die Hand nehmen können. Das weiß ich heute. Aber ich bin in meinem Elternhaus nicht gerade zu einem selbstbewussten Menschen erzogen worden. Und so ein typischer Banker, wie man ihn ja kennt, war ich eigentlich auch nie. Stand für mich doch der Mensch auch als Banker immer im Mittelpunkt. Und trotzdem habe ich meinen Job – zumindest bis auf die letzten Jahre – gern gemacht. Eine schleichende Veränderung in meinem Berufsleben trat dann seit ca. 2005 ein, als sich die Arbeitsstrukturen hin zu einem Überbau an Controlling und dadurch auch das Arbeitsklima in unserer Bank veränderten. In der Endphase meiner Bank-Laufbahn fühlte ich fast täglich eine gewisse Ohnmacht und wusste nicht, wie ich den Arbeitstag hinter mich bringen sollte. Die Arbeit bestand zum damaligen Zeitpunkt zu rund 70 Prozent aus Administration und Systempflege. Dahinter stand, den Arbeitsplatz von Menschen austauschbar zu machen. Ich wollte aber als Mensch gefragt sein.“

Welche Rolle spielte Gott in dem schleichenden Prozess Ihrer Selbstfindung?

„Als ich immer stärker nach einer Lösung meines Problems suchte, wuchs mir auch mehr und mehr der Glaube als bewegende Kraft zu. Mein Glaube war über die Jahre ziemlich verflacht gewesen, der Kirche stand ich eher fern gegenüber. Eine schnelle Veränderung durch Gott verspürte ich nicht, obwohl ich mich doch intensiv im Gebet mit Gott befand. Die trat erst 2009 durch den Tod meines Schwagers mit 52 Jahren ein. Mein Schwager war konfessionslos, und daher sollte es für ihn auch keinen Priester zur Beerdigung geben. Das fand ich absolut würdelos. „Dann mach ich das!“, entschied ich in dieser Situation kurz entschlossen. Und bei der Beerdigungsfeier wurde mir schlagartig bewusst: „Das ist meine Berufung! Es fühlt sich richtig an. Ich war plötzlich ganz bei mir – und ich wusste: ich werde Diakon! Seelsorge ist der Grund, warum ich Diakon werden will. Aber ich wusste zu jenem Zeitpunkt gar nicht, was für Aufgaben ein Diakon überhaupt hat, geschweige denn, was er vorab alles lernen muss. Aber das war in dem Moment auch nicht wichtig für mich.“

Wie haben Sie dann Ihren Weg in diesen neuen beruflichen Lebensabschnitt eingeschlagen, Ihre eigentliche Berufung in die Tat umgesetzt?

„Mein Entschluss ist dann ein paar Monate gereift. Ende 2010 habe ich bei meiner Bank gekündigt, ohne Sicherheit für meinen neuen Lebensabschnitt. Wie ich erfahren musste, kann man Diakon eigentlich nur bis zum 50. Lebensjahr werden und muss neben der Ausbildung noch einen Zivilberuf ausüben. Diakon mit Zivilberuf ist das Berufsbild eben. Ich aber war schon im 51. Lebensjahr und hatte keinen Zivilberuf mehr. Also schrieb ich kurzentschlossen und frohen Mutes einen Brief an den damaligen Aachener Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff, in dem ich meine Begeisterung und Freude für den seelsorglichen Dienst an den Menschen zum Ausdruck gebracht habe. Der Bischof antwortete dann auch sehr freundlich in einem persönlichen Brief, in dem er mich willkommen hieß ‚im Klub der Diakon-Anwärter bei so viel Begeisterung‘. Der Startschuss in mein neues Leben!“

Aber einen neuen Zivilberuf haben Sie nicht zusätzlich angenommen, oder kann man als Diakon auch seinen Lebensunterhalt verdienen?

„Nein, als Diakon mit Zivilberuf ist man im Bistum Aachen finanziell auf seinen Hauptberuf angewiesen. Ich erhalte für meine Tätigkeit eine kleine Unkostenpauschale. Aber finanziell hat sich schon vorab, aber auch durch entsprechende Abfindung der Commerzbank alles so gefügt, dass es passt. Daneben ist meine Frau Annette als Sekretärin beim Jüchener Bürgermeister Harald Zillekens tätig. Meine Frau ist mit einer ihr eigenen Selbstverständlichkeit ein gottgläubiger Mensch. Sie hat meine Entscheidung voll mitgetragen, also auch den Gehaltverzicht. ‚Wenn ich Dein Strahlen im Gesicht sehe, wenn Du über den Diakon sprichst, kann ich doch gar nicht anders als Deine Entscheidung mit zu tragen!‘ Diakon sein ist meine neue Aufgabe, mein Kind sozusagen. Ich möchte das jetzt auch leben, was ich predige. Ich versuche zumindest dem nahe zu kommen. Und wenn unser neuer Bischof Dr. Helmut Dieser den Diakonberuf wieder hin zur Hauptberuflichkeit öffnet, würde ich mich sehr freuen, mit ganzer Seele und all‘ meiner Zeit, also hauptberuflich mein Diakonenamt ausüben zu können. Bis heute hat Gott alles so gefügt, dass es für mich passt. Und es ist gut so!“

Ihre Visitenkarte ziert ein Spruch von Bernhard von Clairvaux, im 12. Jahrhundert Gründer einer Zisterzienser Abtei in Clairvaux/Frankreich: ‚Geh Deinem Gott entgegen bis zu Dir selbst!‘ Was bedeutet dieser Satz für Sie?

„Der sagt mir: Je mehr ich bei mir bin, je näher bin ich bei Gott. Ich nehme die neue Herausforderung an, bin in meinem neuen Leben als Diakon angekommen, mit all‘ meinen Unzulänglichkeiten. Jeder Mensch hat seine Macken. Die Berufung ist zu meinem Lebensinhalt und zu einer neuen Kraft geworden. Hier finde ich auch die Anerkennung, die vielleicht früher in meinem Elternhaus hier und da zu kurz gekommen ist. Heute bin ich wieder als Mensch gefragt, dafür bin ich Gott so dankbar! Als Diakon begegne ich Menschen hautnah beim ‚Bibel teilen‘, bei den Vorbereitungsgesprächen sowie anschließenden Taufen, Hochzeiten, aber auch Beerdigungen, in der Altenseelsorge und auch durch Predigten in diversen Gottesdiensten.“

Ihren Abschied als Bankkaufmann haben Sie nie bereut?

„Nein, ganz im Gegenteil. Zwei Jahre nach meiner Kündigung bei der Bank habe ich meinen ehemaligen Chef wiedergetroffen, der mir das Leben in meinen letzten Banker-Jahren nicht gerade einfach gemacht hat. Den Anlass habe ich genutzt, um mich ausdrücklich bei ihm zu bedanken, dass er eben genau so war, wie er damals in der Endphase zu mir war. Denn sonst hätte ich mir den Ausstieg vielleicht gar nicht zugetraut. Er hat meine Worte in meinem Sinne wohl verstanden, ohne dass es weiterer Erklärungen bedurft hätte. In meinem Leben habe ich eben gelernt, aus den negativen Verhaltensweisen oder Aussagen anderer Menschen die richtigen und positiven Schlüsse für mein Leben zu ziehen. Mein alter Chef hat mich also gestärkt auf meinem Weg.“

Ihre Vorstellung für Ihre persönliche Zukunft als Diakon?

„Für mich ist es wichtig, als Gesprächspartner in persönlichen Glaubensfragen und als überzeugendes Mitglied der katholischen Kirche wahrgenommen zu werden, für Menschen in Krisensituationen da zu sein und den Glauben als Hilfestellung und Kraftquelle für die Menschen zu vermitteln. Die Wurzeln für unseren Glauben liegen in der Bibel. Das haben wir Katholiken ein wenig aus den Augen verloren. Und mit Bezug auf die Bibel als Quelle unserer Geisteskraft müssen wir meines Erachtens neue Wege für die katholische Kirche finden. Die Zukunft wird vielmehr in kleinen christlichen Gemeinschaften in der Nachbarschaft liegen – mehr als in der großen traditionellen Kirchengemeinde. Wir müssen neue Netzwerke bilden, zum Beispiel in Form von einzelnen Bibelgesprächsgruppen, die sich über die herkömmliche Pfarrgemeindestruktur förmlich wie ein Netz verteilen. Unsere evangelischen Freunde in Kelzenberg sind da schon ein ganzes Stück weiter! Und Spiritualität und Seelsorge gehören für mich unbedingt zusammen. Spiritualität ist wichtig: Gott ist und bleibt Geheimnis. Gott ist die Kraft, die Chance für unser Leben. Gott ist nicht fassbar. Er bleibt ein Rätsel, ein Mysterium. Er entzieht sich unserer Verfügbarkeit. Das Geheimnis ist das, was Gott in seiner Weisheit ausmacht. In meinen persönlichen Krisensituationen war Jesus auf Anhieb auch nicht erkennbar für mich. Aber im Nachhinein, aus heutiger Sicht weiß ich, Jesus hat mich ganz konkret auf meinem Weg geführt. Heute erkenne ich das. Und ich spüre es mit einer großen Dankbarkeit!“

Gerd Heydn im Gespräch mit Schwester Jordana

Sie sind gerade wieder Mutter geworden, zum sechsten Mal. Ein Full-Time-Job…

„Ja, ich bin 24 Stunden am Tag für die Kinder da und passe mich in meinem Lebensrhythmus ganz den Kindern an. Jetzt fahre ich mit allen Kindern für drei Wochen in Urlaub in ein Ferienhaus nach Schweden. Das Jüngste ist gerade erst Ende Juni geboren und mir direkt vom Jugendamt übergeben worden. Das Jugendamt übernimmt Lebenshaltungskosten nach vorgegebenen Sätzen pro Tag und Kind. Die Ältesten gehen zur Schule, sind acht Jahre alt, die Jüngeren noch in den Kindergarten. Die Kinder können maximal bis zu ihrem 18. Lebensjahr bei mir bleiben. In diesem Frühjahr haben sich die Fünf taufen lassen – auf ihren Wunsch hin. Die Kinder sprechen mich mit meinem Namen an, wissen, dass ich nicht ihre leibliche Mutter bin.“

Kinderdorf-Mutter. Wie sind Sie dazu gekommen?

„Der Wunsch, eines Tages Kinderdorfmutter zu werden, reifte bei mir schon, als ich selbst noch ein Kind war. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch eine Berufung hat – etwas, was dem eigenen Leben einen Sinn gibt, etwas, das auf einen zu warten scheint, verborgen in einem selbst. Meine ersten Schritte in diese Richtung gingen über die Bewerbung für eine Lehrstelle als Kinderkrankenschwester an der Universitätsklinik Düsseldorf. Ich war 15, als unser Kaplan von Kindern sprach, die keine Familie hatten, keine Eltern, von Kindern, die niemand haben wollte, er sprach von Findelkindern. Augenblicklich stieg in mir der Wunsch auf: Ich wollte auch ein Kind finden. Ich wollte in einem Kinderdorf wohnen, unbedingt einen Beruf ausüben, der mit Kindern zu tun hat.“

Und das taten Sie dann auch…

„Nein. Ich hatte nach meinem Schulabschluss zwar eine dreijährige Ausbildung zur Kinderkrankenschwester mit Bravour bestanden, aber mit 20 wusste ich noch nicht, was ich eigentlich wollte. Meinen Traumberuf malte ich mir aus: irgendetwas mit Kindern und irgendetwas mit Gott. Das ließ sich damals aber nicht unter einen Hut bringen, so schien es mir jedenfalls. Da war noch so eine tiefe Sehnsucht in mir, Gott zu begegnen – von Angesicht zu Angesicht. Schnuppertage in einem Kloster in Münster machten mich wieder unsicher: Krankenschwester oder Klosterfrau. Ich war hin- und hergerissen. Eigentlicher Auslöser für meinen Klosterwunsch war allerdings schon viel früher meine Freundin Marie, die in Dänemark in ein Zisterzienserkloster eingetreten war.“

Und wie fiel Ihre Entscheidung letztlich aus…?

„Ich entschied mich für den Konvent in Dänemark, war 21 damals. Ich feierte eine große Abschiedsparty in Düsseldorf und verschenkte dabei alle meine Habseligkeiten an meine Freunde – einschließlich meiner ‚Ente‘. Bei jedem Stück wurde es mir leichter ums Herz. Endlich frei – frei für Gott. Aber in meiner Freiheit sah ich mich in Dänemark bald mehr und mehr eingeschränkt. Ich vermisste mein altes Leben, meine Freiheit, Verrücktheiten und Selbstverantwortung. Ich schluckte hinunter, was mir aufstieß. Immer öfter störten mich Dinge und beunruhigten mich in meinem klösterlichen Dasein. Entweder man wird verrückt oder der Geist wird leer – und Gott kann in diesen leeren Raum hineinfließen. Mit der Zeit spürte ich, dass ich mit Gott ins Gespräch kam.“

Was hatten Sie auszusetzen, was beunruhigte Sie?

„Ich litt unter einer Wiederbelebung mittelalterlicher Regeln und Rituale, einer Praxis, wie sie in Gefängnissen üblich war. Briefe nach Hause mussten der Oberin offen vor die Zimmertür gelegt werden. Jeden Freitag fand ein regelrechtes ‚Tribunal‘ statt mit schonungslosen Selbstanklagen – ein abartiger Wettbewerb mit geradezu masochistischen Zügen. Ich empfand kein Bedürfnis nach dieser Art Selbstquälerei und zog mich zurück und ins Gebet.“

Welche Konsequenzen zogen Sie für sich aus diesen Erfahrungen?

„Durch ein Praktikum in dem von Dominikanerinnen geführten Bethanien-Kinderdorf in Bergisch Gladbach kam ich dann mit 24 in eine vollkommen andere Welt. Nach meiner Rückkehr nach Dänemark erkannte ich sehr schnell: Hier bin ich falsch! Zwei Wochen vor meinem angedachten ewigen Profess verließ ich den Ort, wo ich zwar Gott gefunden, aber den Glauben an die Autorität verloren hatte. Der wichtigste Grund, warum ich meine Erfahrungen in einem Buch aufgeschrieben habe ist, dass ich Menschen ermutigen möchte, sich zu wehren, die in einer ähnlichen Situation leben wie ich damals – egal ob in der Kirche oder anderswo. Meine eigene Sicht war eingemauert in einer Welt voller Abhängigkeit, Angst und Nichtwahrhabenwollen. Es ist nur meiner Freiheitsliebe zu verdanken, dass ich letztlich doch den Schritt nach außen wagte. Ich habe diesen Leidensweg dreieinhalb Jahre ausgehalten. Aber es war auch eine Zeit, die mich stark gemacht hat.“

Was änderte sich für Sie durch den Übertritt zu den Dominikanerinnen in Bergisch Gladbach und später nach Schwalmtal-Waldniel?

„Ich war damals immer noch unterwegs zu mir selbst. Wichtig erschien mir, mich von meinen Schuldgefühlen zu befreien, die ich aus Dänemark mitgebracht hatte. Ich habe gelernt, dass es nicht wichtig ist, wie oft du fällst, viel wichtiger ist, wie oft du wieder aufgestanden bist. Was ich als Christin tun kann: etwas von der Liebe Gottes weitergeben. Wir sollten nicht die Schuld bei Gott suchen, wenn wir falsche Entscheidungen treffen und uns dann beschweren, dass Gott die Dinge zulässt, die daraus entstehen. Ich war nie eine stromlinienförmige Schwester, aber eine mit Feuer und Flamme.“

Und heute…?

„…fühle ich: Hier, in diesem Kinderdorf, bin ich zu Hause! Die Gewissheit ist in mir zurückgekehrt, dass ich zu Gott gehöre – zu keinem anderen. Ich wollte mehr Zeit mit ihm verbringen, mich noch tiefer auf ihn einlassen. Und es ist mir eine Herzensangelegenheit, Kindern eine Stärkung, eine Stimme, eine Sicherheit zu geben. Die Entscheidung, Kinderdorf-Mutter zu werden, war wieder Berufung gewesen, ein neues Stück des Weges zu mir selbst, mit vollkommen anderen Herausforderungen.“

Sie haben in Ihrem Buch auch nicht mit Kritik an der Kirche gespart.

„Ich habe gelernt, dass Veränderungen von innen heraus kommen müssen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass eines Tages der Heilige Geist über unsere Patriarchen kommt und der ‚Wind of Change‘ die Kinder, vor allem die Mädchen von morgen ergreifen kann. Eine Schwester hat mir Mut gemacht, nicht mit allem einverstanden sein zu müssen, sondern Stellung zu beziehen. Und trotzdem dabei ‚Vereinsmitglied’ in der Kirche bleiben zu dürfen. Mutter Teresa hat einmal auf die Frage geantwortet, was sich denn in der Kirche ändern müsse: Sie und ich!“