Es gibt kein richtiges Leben im falschen!

Adornos Fragen und Sehnsüchte – Jesus‘ Antworten

Der Liedermacher und Kabarettist Rainald Grebe hat Pfarrer Bodo Beuscher für den „Schnuppergottesdienst“ am 16. November 2014 mit seinem Lied „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ inspiriert! „Typisch Kelz“ gibt diese Predigt hier noch einmal gekürzt wieder.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Ein sehr deutlicher Satz, eine ziemlich steile Aussage! Dieser Satz ist sehr schnell populär geworden als Parole der 68er Studentenbewegung. Er richtete sich gegen den damaligen Lebensstil und klingt eher kämpferisch: Der ehemalige Grünen-Außenminister Joschka Fischer erklärte einmal als Zeuge vor Gericht sein damaliges Denken folgendermaßen: „Wir wollten ein richtiges Leben im falschen führen“ – und zwar nicht irgendwann“. Und daraufhin hat er dann – gekämpft: Demos, Steinewerfen…

Der Urheber, der Philosoph und Kopf der „Frankfurter Schule“, Theodor Adorno, meinte diesen Satz jedoch gar nicht kämpferisch. Für Adorno ist dieser Satz zuerst einmal eine Feststellung und Analyse, oder: Wie ist das eigentlich mit dem Leben so in unserer Gesellschaft im 20. Jahrhundert? Und er sagt damit zunächst eines: Es gibt also „richtiges“ und „falsches“ Leben – das ist nicht „wie jeder das so sieht“! Dieses „richtige“ Leben ist laut Adorno mehr als Tage, Monate und Jahre, mehr als einzelne Ereignisse und Erlebnisse, die man aneinanderreiht. „Das Leben“ ist ein System! Das Leben ist mehr als die Summe seiner Teile, es ist ein Ganzes: Und dieses Ganze ist entscheidend für das „richtige“ oder „falsche“ Leben. Und das muss man, das sollte man suchen und finden, dieses „richtige Leben“.

Wenn du es nicht hast, wenn also dein Leben eingebettet ist in etwas Falsches, dann kannst du auch in allen Teilbereichen nicht „das Richtige“ treffen.

Bestes Beispiel aus zahllosen Gesprächen bis zum heutigen Tag über Hitler und das Dritte Reich: „Unter Hitler war doch nicht alles schlecht: Also, was er mit den Juden gemacht hat, klar! Aber die Arbeitslosen von der Straße und die Autobahnen – das war doch was Gutes!“

Adorno sagt: Nein! „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Oder anders: Wenn das System falsch ist, dann sind auch die einzelnen Teile falsch. Oder ganz einfach und ganz deutlich: Wenn du im falschen Zug sitzt, ist auch die erste Klasse falsch. Du kannst dich freuen über die breiten Sitze, den tollen Service, aber du bist im falschen Zug!

Aber genauso sieht unsere Gesellschaft heute aus. Adorno: Suche nach dem richtigen Lebensganzen? Das macht keiner mehr! Stattdessen reiht man einfach Monate und Jahre und Ereignisse aneinander, natürlich möglichst „richtig“, und meint: Dann muss das Ganze doch auch richtig werden – ist doch normal, oder? Auf Deutsch: Es ist normal, dass man nicht mehr nach dem richtigen Zug fragt, sondern guckt, dass man möglichst in der 1. Klasse sitzt!

Wisst Ihr, wie Adorno diesen Lebensstil nennt? – „Verblendung“. Und die Folge davon: Entfremdung – dem Leben entfremdet.

Der Prophet Hesekiel spricht über Leitfiguren, über Menschen, die führen, also Politiker, Pädagogen oder Eltern. Bei ihm heißt es: „Ihr habt mein Volk in die Irre geführt, ihr habt gesagt: Alles ist gut! Aber in Wahrheit steht es gar nicht gut. So baut sich mein Volk eine Mauer aus losen Steinen und streicht Tünche drüber!“

Adorno war kein Christ. Gott war für ihn keine Realität. Aber: Ich höre als Christ hier viele Töne, die ich von Jesus Christus kenne: Die Frage: Was ist eigentlich richtiges Leben? – Die Überzeugung: Es gibt „das richtige Leben“. – Die Botschaft: Dieses richtige Leben kannst du nicht machen, dem kannst du dich anvertrauen – wenn du es findest!

Aber bleiben wir noch ein wenig bei Adorno: Es gibt kein richtiges Leben im falschen – gar kein kämpferischer Satz, sondern eine Analyse. Und vor allem: eine sehr traurige Analyse, ein Satz voller Resignation, melancholisch. Denn Adorno kommt nicht viel weiter als nur bis zu dieser Analyse! Und dieses Gefühl „irgendwie sitzen wir im falschen Zug“. Das klingt so traurig, vor allem, wenn man nicht weiß, wie man in den richtigen kommt!

Adorno stammt aus bester Frankfurter Familie, musikalisch und insgesamt hochbegabt, mit 21 bereits promoviert, nach Aufenthalten in Wien und Berlin ein großer, total vernetzter Denker, Philosoph, Musiktheoretiker, Soziologe und Komponist. Wie einen Schock, einen brutalen Schnitt erlebt er den Einbruch des „Dritten Reiches“: ein falsches Leben, eine falsche Gesellschaft, die Entfremdung vom Leben – alles das wird jetzt in der Nazigesellschaft in ganz furchtbarer Weise sichtbar! Er muss fliehen, da er jüdische Vorfahren hat, und er geht ins Exil in die USA.

Und dort ist dieser Satz entstanden, nicht nur am Schreibtisch, sondern aus seinem Leben heraus, nicht nur gedacht, sondern vor allem „gefühlt“. Und wisst Ihr, was die beiden entscheidenden Worte des Satzes sind? – „Gibt kein“. Und das macht ihn so furchtbar traurig!

Weit weg von Deutschland, in den USA, bricht bei ihm Heimweh nach einem richtigen, echten, nicht entfremdeten Leben, nach den Hoffnungen seiner Jugend, nach einer gerechten Gesellschaft durch. Und er macht dabei die traurige Erfahrung: „Gibt kein!“

Es gibt nur falsches Leben, überall. Und das äußert sich im Faschismus und Kommunismus durch Terror und brutale Gewalt, in KZs und Gulags, durch sanfte Manipulation einer Konsum-, Medien- und Unterhaltungsgesellschaft in einer „heilen“ kapitalistischen Gesellschaft in den USA.

In beiden „Lebenssystemen“ drückt sich die Entfremdung des Menschen vom richtigen und eigentlichen Leben aus. Im Westen, klar, 1. Klasse, – aber im falschen Zug! Das ist Adornos tieftrauriges Urteil über die westliche Gesellschaft. Der Philosoph Florian Roth: „Der Mensch meint seiner Autonomie noch sicher zu sein, aber die Nichtigkeit erreicht ihn bereits!“ Der Prophet Hesekiel: „So baut sich mein Volk eine Mauer aus losen Steinen und streicht Tünche drüber!“

Bleibt die logische Frage: Wo und wie ist man eigentlich im richtigen Leben zuhause und nicht „entfremdet“? – Adorno weiß es nicht! „Gibt kein“. Eigentlich ist sein Satz eher ein Stoßseufzer: „Ach, es gibt überhaupt kein richtiges Leben im falschen!“

„Die Philosophie Adornos kündet von einem Glück, das in Wirklichkeit unerreichbar ist, ohne dass sie jemals das Verlangen nach diesem Glück preisgäbe“ (Roth). So sehnt er sich nach etwas, von dem er nicht weiß, wo es das gibt. Das macht den modernen Menschen zum Fremden, macht ihn heimatlos, erzeugt Heimweh und Sehnsucht nach Mehr. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Es geht bei diesem Satz nicht um eine Parole, einen linken Kalenderspruch. Es geht um existenzielle Nöte!

Nein, Adorno war kein Christ – bestimmt nicht. Aber das, was er hier schreibt, schlägt bei mir als Christ Töne an, die ich kenne. Vieles von dem, was er schreibt und denkt ist voll von Heimweh – nur wo ist die Heimat?

Und ich lese das und entdecke meine Gefühle – als Christ – mit Heimat! Als einer, der das Unwohlsein in der Welt, das Unbehaust–Sein, das Sich-Unwirtlich-Fühlen kennt. Als einer, der aus der Bibel gelernt hat, dass alle Teile des Lebens eben nicht „so Teile“ sind, sondern – Bruch-Stücke. Und diese Bruch-Stücke schreien nach einem Ganzen wie ein Puzzle, das auf den Boden gefallen ist.

Nein, Adorno war kein Christ, aber vieles von seinen Fragen und Sehnsüchten erinnert mich an diesen Jesus Christus: Zum Beispiel an Jesus‘ Gespräch mit einem reichen jungen Mann. Dieser Mann macht so vieles richtig in seinem Leben, aber fühlt sich, als sei er in einem falschen Leben. Deshalb fragt er Jesus, was er tun solle. Der zählt vieles von den Richtigkeiten auf und bekommt immer die Antwort: „Mach ich doch!“ Dann empfiehlt ihm Jeus, das System zu ändern. Nicht im Falschen alles richtig zu machen, sondern: Das richtige Leben zu leben – er empfiehlt ihm die Abhängigkeit von Gott.

„Da verließ ihn der junge Mann traurig“ – das wollte er nicht. Er wollte seine Sehnsucht nach Leben in seinem System stillen. Und Jesus macht ihm deutlich: Das geht nicht. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Sehnsucht schreit nach Hilfe von außen. Sehnsucht schreit nach Erlösung, ja, danach vom falschen Leben losgelöst zu werden und ans richtige nach Hause geholt zu werden.

Genauso „schreit“ Adorno am Ende seines Aufsatzes über das richtige und falsche Leben: „Philosophie, wie sie angesichts unserer Verzweiflung noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt einer Erlösung aussehen. Unsere Erkenntnis hat kein Licht, außer das, das von der Erlösung her auf die Welt scheint.“

Mir ist das sehr sympathisch. Da denkt einer nach. Da fragt einer weiter! Und mich lässt diese Sehnsucht aufatmen: Denn mich stößt sie auf Jesus Christus, das Leben im Tod, die Erlösung in der Verzweiflung. Und ich denke daran, wie Christus die Menschen wahrnimmt und analysiert: „Als er die vielen Menschen sah, ergriff ihn das Mitleid, denn sie waren so hilflos und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ (Mt.9, 36).

Was er ihnen sagt: Jesus zog durch die Städte und Dörfer. Er lehrte und verkündete die Gute Nachricht: „Gott richtet jetzt seine Herrschaft auf und bringt sein Werk zu Ende.“ (Mt.9,35) Und wie er auf sie wirkt: Als Jesus seine Rede beendet hatte, waren alle tief beeindruckt von seinen krassen Worten. Denn was er sagte, strahlte Kraft von Gott aus. (Mt.7,28)

Ja, bei diesem Christus, da erlebe ich das richtige Leben, das, was von dort her kommt, wo es gemacht wurde. Da werde ich mit all meinem Suchen und Sehnen in den richtigen Zug gesetzt. Und da erlebe ich Heimat statt Entfremdung!

Bodo Beuscher