Klagender Dank

„Was bist du so bedrückt, meine Seele? Halte doch Ausschau nach Gott! Denn gewiss werde ich Ihm noch danken. Wenn ich nur Sein Angesicht schaue, ist mir schon geholfen.“ Psalm 42,6 

„Lob und Dank, Gotteskinder sagen immer Lob und Dank…!“ Solche Lieder habe ich als Kind in unserer damaligen Kirchengemeinde gehört, gelernt und laut mitgesungen. Ich glaubte, dass Christen immer liebe Menschen sind, denen es Gott immer gut gehen lässt, indem Er alles Unglück von ihnen fernhält. Probleme, Nöte und die ganzen doofen Sachen, die kein Mensch will, hat Er für die bösen Menschen aufgespart. Heute weiß ich, dass wir Christen durchaus nicht nur liebe Menschen sind (eine Einsicht, die ich an mir selbst erfahre). Heute weiß ich, dass wir Christen auch wie alle Menschen von Krankheiten, Krisen in Ehe und Familie und verschiedenen anderen Nöten getroffen werden können. Das ist sogar bei den ernsthaften, aufrichtigen Leute so, in deren Leben der Glaube und die Beziehung zu Gott die wichtigste, prägende Basis zu sein scheint. Auch kenne ich heute genügend Menschen, deren Weltbild gar keinen Gott enthält, die aber doch kein schweres Unheil erleiden und gesund, wohlhabend und meistens gut drauf sind. Das schlichte Weltbild aus meiner Kindheit – die guten Menschen werden von Gott belohnt, die bösen von Ihm bestraft – hat sich endlich ganz und gar aufgelöst. Die stumpfe Überzeugung von Gott als Richter und Polizist war in meinem Leben über viele Jahre hinweg zur immer größeren Belastung geworden. Ich konnte mir nie sicher sein, ob ich gut genug war, ob ich genügend geleistet hatte, um von Gott belohnt zu werden, ob Er mich wirklich mitnehmen würde, wenn Er eines Tages die guten Menschen von der Erde abholen würde. Selbst die unscheinbarsten Sünden trugen das Risiko in sich, dass ich für immer und ewig bei Gott durchgefallen war. Irgendwann wurde mir dieser Lebensstil zu anstrengend und ich verfiel in eine massive Krise. Anspruch und Wirklichkeit lagen zu weit auseinander. Verzweifelt fragte ich Gott, wie Er sich denn das Leben als Christ für mich vorstellen würde. Er überraschte mich dann mit einer Einsicht, die meine bisherige Überzeugung deutlich erschütterte: Ganz unmissverständlich machte ich die Erfahrung, dass Er mich mag und zwar ganz vollständig so wie ich bin! Mit den guten und den schlechten Seiten an mir. Er kennt die Seiten an mir, die ich mag, Er kennt auch die Seiten an mir, die ich am liebsten verdränge und nicht so gern sehen will. Und trotzdem mag Er mich. Ich hatte über Jahre hinweg eine fromme Fassade aufgebaut, mit der ich Gott, meine Mitmenschen und mich selber beeindrucken wollte. Jetzt zeigte mir Sein Blick hinter die Fassade, dass sich dort ein Mensch versteckt hält, den Er genauso liebt und sucht, wie er ist, jetzt, hier und heute. Dieser liebevolle Blick meines Schöpfers auf mich hat mich förmlich überwältigt und dazu befähigt, die Fassade fallen zu lassen. Die tiefe unerschütterliche Liebe Gottes zu mir kann durch nichts verringert oder gar entzogen werden. Ich werde immer sicherer in dem Bewusstsein, dass Er mich mag, wenn ich gut drauf bin und dass Er mich mag, wenn ich schlecht drauf bin. Jetzt habe ich eine stabile Basis, von der aus mein Leben in der Beziehung zu Gott völlig neu gestaltet werden kann. Ob mir Angenehmes oder Schwieriges begegnet, Gott ist an meiner Seite. Er wird alles tun, um mich zur Entfaltung zu bringen, den Menschen aus mir zu machen, den Er sich ursprünglich ausgedacht hat.

„Dank ist das edle Eingeständnis unserer Grenzen.“ Georg Moser

„Lob und Dank, Gotteskinder sagen immer Lob und Dank…!“ dieses Lied würde ich heute mit weniger Naivität singen. Es läuft nicht immer alles glatt in meinem Leben, ich habe gute Tage und schwierige Tage. Gott wird nicht alle Nöte und Schwierigkeiten von mir fernhalten. Es gibt immer wieder Herausforderungen, die mich an meine Grenzen bringen, manchmal sogar über meine Grenzen hinaus belasten. Das sehe ich heute jedoch glücklicherweise nicht mehr als Strafe von Gott für irgendein eventuelles Fehlverhalten, sondern als Möglichkeit, tiefer in Ihm verankert zu werden. Manchmal können Bedrängnisse sich dermaßen auftürmen, dass mein Dank an Gott ganz hinweg schmilzt. Da sehe ich überhaupt nicht mehr, wofür das denn jetzt gut sein soll. In dem Psalm oben drückt der Dichter aus, dass er sich in einer depressiven Grundstimmung befindet, weil die Schwierigkeiten ihm wie Wogen über dem Kopf zusammenschlagen. Ihm ist eher nach Schmollen als nach Dank zumute. Mitten in dieser Notlage ringt er sich dazu durch, seinen Blick auf Gott zu richten. Jetzt ist er bedrückt, traurig, vielleicht verängstigt oder besorgt oder von anderen unschönen Gefühlen beherrscht. Mitten in den Klagen besinnt er sich darauf, dass Gott es gut mit ihm meint, dass Gott gute Absichten und Ziele für ihn hat, dass Gott nicht von seiner Seite weicht. Und genau so drückt er es auch aus: Ich werde Gott noch danken…! Jetzt kann ich es noch nicht, jetzt sehe ich noch keinen Ausweg, jetzt bin ich noch bedrückt. Aber es wird die Zeit kommen wo Gott mich aus dieser Notlage befreit, wo Er die Situation ändern wird. Gott regiert, Gott hat alles unter Kontrolle, Er ist nicht überfordert. Und in diesem Vertrauen sagt der Psalmdichter: Ich werde Ihm noch danken. Das ist dann trotz aller Bedrückung ein vorweg gesprochener Dank: Klagender Dank eben.

Gerd Reschke