Aus Nigeria nach Deutschland – Kirstin Rappmund-Gerwers im Gespräch mit Larry A.

Warum sind Sie nach Deutschland gekommen?

Ich habe Nigeria verlassen, weil ich Probleme mit der Nigerianischen Regierung hatte. Sie hat mir gedroht, mich einzusperren und zu töten. Im Juli 2015 wurde ich im Norden Nigerias – in der Suleja Niger Provinz – ins Gefängnis geworfen, weil ich zu den Menschen aus Biafra gehöre. Ich saß fünf Tage im Gefängnis. In der kleinen Zelle – vier mal vier Meter – waren 50 Personen zusammengepfercht. Wir hatten keine Decken, kein Essen und kein Wasser. Es gab keine Sitzgelegenheiten. Sie nahmen mir mein Mobiltelefon weg und meine Familie wusste nicht, wo ich war und konnte mich nicht erreichen. Es gab keine Toilette, nur einen Eimer in der Ecke.

Wissen Sie, warum Sie gefangengenommen wurden?

Das resultierte aus meiner Position als einer der Führer des Biafrischen Volkes. Nicht als Politiker. Ich kämpfe nur für die Sache meines Volkes, das seit so langer Zeit an den Rand gedrängt wird. Ich war eine der Stimmen meines Volkes gegen die Irrationalität, Einschüchterung und Diskriminierung von Seiten der Regierung.

Wie sind Sie geflohen?

Gott weiß, wie ich fliehen konnte. Ich kann es an dieser Stelle nicht erzählen, weil es jemanden gefährden würde… Nach meiner Flucht ging ich nach Hause. Am 30. August hatten wir eine Demonstration für den Kampf ums Überleben des Volkes von Biafra, für einige unserer Mitstreiter, die wegen ihres Einsatzes für Biafra verhaftet worden waren und für die Information der Menschen über die Ausgrenzung des Volkes von Biafra. Die Demonstration fand in Onitsha (im Staat Anambra) im süd-östlichen Teil von Nigeria statt. An diesem Schicksalstag marschierten wir auf einer großen Straße. Eine Gruppe von nigerianischen Soldaten kam uns hinterher und eröffnete das Feuer. Sie haben fünf Menschen sofort erschossen und wir rannten um unser Leben. Ich rannte zu meinem Haus, holte meine Familie und fuhr aus der Gegend heraus. Von meinen Nachbarn erfuhr ich später per Telefon, dass Sicherheitskräfte meine Umgebung nach mir abgesucht haben.

Was passierte dann?

Ich floh mit meiner Familie an einen sichereren Ort an der nigerianischen Grenze. Von dort aus habe ich mein Flugticket upgedated und bin nach Deutschland geflogen. Ich war früher schon in Deutschland, hatte also entsprechende Visa.

Ihre Familie blieb dort?

Ja, sie hat keine Visa.

Haben Sie Angst um sie?

Ich habe nicht ganz so viel Angst um sie, weil ich das primäre Ziel bin. Sie können aber nicht in unsere Heimat zurückkehren und die Kinder müssen die Schulen wechseln.

Wie war es für Sie, nach Deutschland zu kommen?

Es war sehr hart für mich, weil ich nicht damit gerechnet habe, jemals ein Flüchtling zu sein. Meine Psyche war sehr niedergedrückt. Aber durch die Jüchener und besonders die Kirche Kelzenberg habe ich wieder Hoffnung bekommen.

Wie war die Situation im Erstaufnahme-Lager in Jüchen?

Anfangs war es eine schwierige Aufgabe, denn im Lager waren rund 150 Männer aus verschiedenen Ländern, Sprachen, Stämmen, Religionen, Kulturen, Bildungsstand und so weiter. Es gab also ein schwerwiegendes Kommunikationsproblem. Die freiwilligen Mitarbeiter aus Kelzenberg haben dazu beigetragen, uns zusammenzubringen, so dass wir als „Familie“ interagieren konnten ohne Ansehen der Person, des Alters, des Bildungsstandes, der Rasse etc.

Daran waren Sie aber auch beteiligt. Im Lager nannte man Sie „Obama“…

Ich habe es in die Hand genommen, Verständnis unter den Leuten zu sähen. Ich habe ihnen klar gemacht, dass die Lage für alle hart ist und dass wir alle zusammenspielen und nicht gegeneinander kämpfen sollten. Zu jedem Flüchtling im Lager sagte ich: „Wir sind gekommen, um zu leben, vielleicht nicht, um zu bleiben, aber Hoffnung ist das richtige Leben der Lebenden“. In anderen Worten: „Wenn es Leben gibt, gibt es Hoffnung.“ Du musst Deine Vergangenheit hinter Dir lassen und in die Zukunft schauen. Du musst es wertschätzen, dass Menschen Dir ihre Zeit und einige ihrer Besitztümer schenken und glücklich sein.

Welche Rolle spielt dabei Ihr Glaube?

Wie ich schon sagte, bin ich Christ. Und durch meinen christlichen Glauben verstehe ich wirklich, was es heißt, „Christus-ähnlich“ zu sein. Wir sollen nicht trennen und separieren. Wir sollen jeden so sehen wie uns selbst, ob Christ oder Muslim. Wir müssen einander lieben und einmütig miteinander leben. Das ist mein Verständnis vom Christsein und so bin ich auf meine Mitchristen, Muslims oder Angehörigen anderer Religionen im Lager zugegangen. Diese Liebe, die ich ihnen entgegengebracht habe, hat dazu beigetragen, dass alle zusammenstanden und miteinander – wie in einer Familie – geteilt haben.

War das eine neue Erfahrung für Sie?

Schon in meiner Kindheit habe ich mich immer in der Rolle des Anführers meiner Gruppe wiedergefunden. Es scheint einfach in meiner Natur zu liegen, Leute zusammenzubringen. In meiner Sekundarschule in Nigeria war ich der Senior Prefect und habe sichergestellt, dass jeder gleich behandelt wurde. Dafür haben sie mir den Spitznamen „Larry Marshall“ gegeben, der sagte, dass ich immer der Kopf bin. Das war also sehr früh schon in meiner Persönlichkeit angelegt … Bislang hatte ich jedoch nicht die Gelegenheit, mit Ausländern aus verschiedenen Kulturen, Religionen und Backgrounds zusammen zu sein. Das ist das erste Mal für mich und war eine entsprechend große Aufgabe. Einmal schlug mich einer der Jungs im Camp, aber ich habe ihn immer noch wohlwollend angenommen. Er konnte es nicht glauben, als ich ihm die Hand reichte. Seitdem war er sehr freundlich.

Was sind Ihre Erwartungen an Ihr Leben in Deutschland?

Das Wichtigste ist politischer Schutz. Von da aus will ich sehen, wie ich den nachfolgenden Flüchtlingen helfen kann. Wenn möglich, möchte ich gern Internationale Beziehungen studieren. Das könnte mir vielleicht den Weg ebnen, global zum Weltfrieden beizutragen.

Vielen Dank für Ihre Offenheit. Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft.

Predigt vom 14. Sonntag nach Trinitatis, 6.9.2015

1. Was sagt die Bibel zum Thema Flüchtlinge?

Die Bibel sagt nicht nur etwas über Flüchtlinge, sie ist ein Migrantenbuch. Sie ist ein Buch über Flüchtlinge:

  • Die ersten Migranten fliehen auf Grund von Kapitalverbrechen. Die Bibel berichtet von der Emigration von Adam und Eva aus dem Paradies, aus der Nähe Gottes, von Vertreibung und Flucht und dem mühsamen Sesshaftwerden an einem fremden Ort.
  • Kain, der Sohn von Adam und Eva, ist der nächste Vertriebene. Er hat seinen Bruder ermordet und ist fortan ein heimatloser Flüchtling.
  • Es gibt Flucht auf Grund von Naturkatastrophen: Noah in der Arche flieht vor einer Hochwasserkatastrophe.…
  • Abraham ist der erste Wirtschaftsflüchtling der Bibel: Eine Hungersnot lässt ihn nach Ägypten auswandern. Aus Angst, abgeschoben zu werden, gibt er seine Frau Sara als seine Schwester aus.
  • Isaak emigriert als Wirtschaftsflüchtling zu den Philistern.
  • Jakob flüchtet zunächst, weil er seinen Bruder tödlich beleidigt hat. Als alter Mann emigriert er aus wirtschaftlicher Not mit seinen elf Söhnen nach Ägypten

Dann kommt die große Generation der politischen Flüchtlinge:

Die Nachkommen Jakobs werden nach 400 Jahren allesamt aus Ägypten vertrieben und irren 40 Jahre auf der Halbinsel Sinai durch die Wüste. Angeführt werden sie von Mose, der wegen eines politischen Mordes viele Jahre auf der Flucht war. Die fünf Bücher Mose sind quasi eine einzige Geschichte von Flucht und Vertreibung. Eines der Worte, die im Alten Testament am häufigsten auftauchen, ist die Warnung, das niemals zu vergessen! Das lesen wir mantraartig! Das ist das zentrale Glaubensbekenntnis, was jeder Vater seinen Kindern beibrachte. Das konnten sie vorwärts und rückwärts und mitten im Schlaf aufsagen: Denkt daran, wie ihr vertrieben worden seid und wie Gott euch gerettet hat. Ihr habt als Fremde gelebt, vergesst das nie.

Auch das Neue Testament beginnt mit Flucht und Vertreibung.

Jesus kommt nicht zu Hause auf die Welt. Seine Eltern leben in einem besetzten Land, sind unterwegs und finden keinen Platz für die Geburt. Später müssen sie mit dem neu geborenen Baby vor dem Kinder mordenden Herodes nach Ägypten fliehen. Jesus ist ein Flüchtlingskind. Später danach gefragt, wo er zu Hause ist, antwortet er: „Füchse haben ihren Bau, und Vögel haben ihre Nester, aber der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sich hinlegen kann.“ (Mt 8, 20)

Was ist das für ein Gott, der zusieht, wie die Menschen über diesen Planeten irren und der manchmal sogar selbst Hand anlegt, vertreibt, verstößt und in die Flucht jagt? Ich will es euch sagen und ihr werdet vielleicht genauso erschüttert sein wie ich, als ich das begriff: Gott selbst hat Migrationshintergrund. Gott selbst ist ein Flüchtling. Er verlässt seinen Wohnsitz, er tauscht den Himmel gegen die Erde ein und wartet seit diesem Zeitpunkt auf Integration.

Wir lesen bei Johannes: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahm ihn nicht auf. Er kam zu seinem Volk, aber sein Volk wollte nichts von ihm wissen.“ In einem einzigen wuchtigen Satz das ganze Elend Gottes: Du bist hier nicht willkommen.

2. Wir sind alle Ausländer

Ich bin nicht von hier. Ich bin keine Kelzenbergerin. Ich hin aus Wuppertal. Meine Eltern waren auch keine Wuppertaler. Mein Vater ist in Neu Guinea geboren, aber seine Eltern waren keine Papuanesen.

Wir sind alle nicht von hier. Wir sind alle Zugezogene und werden früher oder später wieder abreisen. Ein Narr, wer so lebt, als würde er hier Wurzeln schlagen.

Paulus, der übrigens auch auf der Flucht gewesen ist, sagt: „Wenn das irdische Zelt, in dem wir jetzt leben, nämlich unser Körper, abgebrochen wird, hat Gott eine andere Behausung für uns bereit: ein Haus im Himmel, das nicht von Menschen gebaut ist und das in Ewigkeit bestehen bleibt.“

Unser Leben ist nicht unser eigentliches Zuhause. Unser Leben, unser schönes, kostbares, geliebtes Leben ist nicht mehr als ein Zelt. Eine Baracke, ein Provisorium. Wir sind hier nicht zu Hause. Je fester unser Haus, je größer unser Konto, je mehr PS unser Auto, desto größer ist die Gefahr, sesshaft zu werden und nie mehr weg zu wollen.

Der Schweizer Theologe Walter Lüthi hat gesagt: „Diese Welt ist ein riesengroßer Campingplatz.“ Eine Durchgangsstation. Wir sind auf der Durchreise. Wir sind hier nicht zu Hause. Wir sind nicht von hier. Wir sind Asylanten. Unser Asyl ist im Himmel! Das heißt: Wir alle sind hier auf dieser Welt Ausländer! Hier auf der Erde gibt es keine Heimat! Alles, was uns daran erinnert, ist heilsam! Ich bin der festen Überzeugung, wenn jeder auf dieser Erde dies erkennen würde, gäbe es keine Flüchtlingsproblematik.

Wenn wir alle Ausländer sind, macht die Unterscheidung von Deutschen und Migranten keinen Sinn. Dann sitzen wir alle im selben Boot.

Es würde uns demütig und dankbar machen, dass wir es so gut haben, dass wir seit 70 Jahren keinen Krieg mehr hatten, dass wir nicht nur in unseren Kirchen, sondern sogar auf der Straße, sogar am Düsseldorfer Hauptbahnhof laut von Jesus singen können, ohne dass uns jemand verhaftet. Das würde uns demütig und bescheiden machen und uns eine tiefe Achtung geben vor dem, was wir hier alles haben. Und – im gleichen Atemzug – eine ebenso große Achtung vor denen, die das alles nicht haben.

3. Das hat Konsequenzen

Gott hat ganz klare Vorstellungen von unserem Umgang mit Ausländern und Flüchtlingen, und sie sind radikaler als alles, was wir in unserem mitmenschlichen Repertoire haben: Wir sollen sie lieben! Österreich hat eine Migrantenfibel herausgegeben, die versucht den Zuwanderern westliche Prinzipien und Werte zu erklären. Wir wollen Demokratie. Wir schätzen Werte wie Verantwortung, Respekt, Bildung, Gemeinwohl, Eigenverantwortung etc.. Sie hätten in die Bibel schauen müssen, weil die Bibel eine Migrantenfibel ist. Sie vermittelt ganz viel an lebensorientierten Prinzipien und ganz praktischen und praktikablen Werten:

An nichts kleben, außer an Gott

„Wenn es euch dann gut geht und ihr euch satt essen könnt, dann gebt Acht, dass ihr den Herrn nicht vergesst, der euch aus Ägypten herausgeführt hat.“ (5. Mose 6) Wer sesshaft wird, fängt an zu kleben. Das ist ein Naturgesetz. Er klebt an Land, Haus, Bankkonto, Auto, Inhalt des Kleiderschranks, des Portemonnaies, Möbel, Handy, Laptop, Reisen und vergisst glattweg, dass er auf der Durchreise ist und irgendwann der Tag kommt, an dem er alles loslassen muss. Er vergisst Gott. Vergiss nie, dass dein Zuhause im Himmel ist. Schau genau hin, ob und wie sehr du anfängst, am Falschen zu kleben.

Andere auf der Durchreise lieben

„Der Herr verhilft Witwen und Waisen zu ihrem Recht. Er liebt die Ausländer und gibt ihnen Nahrung und Kleidung. Auch ihr sollt die Ausländer lieben, denn ihr wart selbst einmal Ausländer in Ägypten.“ (5. Mose 10, 17)

Dass ihr auf der Durchreise seid, erfahrt ihr Tag für Tag, wenn ihr in der Zeitung Todesanzeigen lest, wenn ihr krank werdet, wenn ihr die erste Brille braucht, wenn ihr nur noch mit Stock gehen könnt, wenn das Gedächtnis nachlässt, wenn das Gebiss klappert: Ihr seid auch nicht von hier! Die logische Konsequenz, die daraus folgt: Der andere auf der Durchreise sitzt im selben Boot wie ich. Er ist genauso auf Willkommen, auf Wertschätzung, auf Unterstützung angewiesen wie ich. Gott liebt den Fremdling.

„Wenn sich ein Ausländer bei euch niederlässt, sollt ihr ihn nicht ausbeuten. Den Ausländer, der bei euch wohnt, sollt ihr wie einen von euch behandeln und ihr sollt ihn lieben wie euch selbst. Denn ihr selbst wart einst Fremde in Ägypten.“ (3. Mose 19, 33f)

So geht Integration. Einen anderen Reisenden behandeln „wie einen von uns.“ Darum ist der Deutschunterricht so wichtig, damit sie eine Chance haben, einer von uns zu werden. Darum betreuen wir die Kinder. Darum bekommen sie Fahrräder, darum gehen wir mit ihnen zu Behörden und zum Arzt. Darum laden wir sie ein, in unserem Haus Billard zu spielen. Damit sie einer von uns werden.

„Das Laubhüttenfest sollst du sieben Tage lang feiern. Als Freudenfest sollst du es begehen mit deinen Söhnen und Töchtern, deinen Sklaven, dem Leviten, den Fremden, die bei euch leben, der Waise und der Witwe in deinem Wohnort.“ (5. Mose 16)

So geht Integration. Einladen! Wisst ihr, was ich gedacht habe? Warum habe ich die Leute vom Deutschkurs eigentlich nicht zu meiner Geburtstagsparty hier ins Gemeindehaus eingeladen? Oder zumindest die drei, die hier immer zum Billardspielen herkommen? Ich habe 5. Mose 16 zu spät gelesen.

„Wenn ihr erntet, sollt ihr euer Feld nicht bis an den Rand abernten und keine Nachlese halten. Auch eure Weinberge sollt ihr nicht ganz ablesen und die heruntergefallenen Trauben nicht aufheben. Lasst etwas übrig für die Armen und für die Fremden bei euch.“ (3. Mose 19)

So geht Integration! Ihre Menschenwürde achten. Ihnen keine Almosen geben. Sie selbst etwas zu ihrem Lebensunterhalt beitragen lassen. Ihnen Arbeit geben. Wohnraum. Zeit. Freundlichkeit. Wertschätzung.

Ein Busfahrer hat neulich in Erlangen, als eine Gruppe von Flüchtlingen einstieg, gesagt: „Willkommen in Deutschland, willkommen in meinem Land.“ Klaus Kleber hat davon in den Nachrichten berichtet und mit den Tränen gekämpft. Mich rührt nicht Klaus Kleber und auch nicht dieser Busfahrer. Aber mich rührt, dass eine einfache, eigentlich total selbstverständliche Geste scheinbar so unselbstverständlich, so ungewöhnlich, so unerwartet ist, dass ein gestandener Fernsehmann, der ganz andere Nachrichten ansagt, weinen muss. Deutschland, wo sind wir hingekommen?

Wie viele Menschen leben hier, die vor 70 Jahren selber fliehen mussten und noch genau das Gefühl kennen müssen, wie abgrundtief dankbar sie waren, wenn sich hier eine Tür öffnete und jemand sagte: „Willkommen in Deutschland. Willkommen in meinem Land.“

Wir können zu Fremden etwas Großartiges sagen, etwas, was sie sicherlich noch nie gehört haben:

Ihr seid uns willkommen, weil unser Gott selbst ein Flüchtlingskind ist.

Willkommen, weil wir auch Migranten sind, alle zusammen! Willkommen, weil auch wir hier keinen einzigen Ort haben, an dem unser Zuhause ist. Willkommen, weil wir alle Asylanten sind und weil wir zutiefst dankbar sind, dass unser Asylantrag im Himmel schon genehmigt ist und wir wissen: Da können wir bleiben. Willkommen, weil ich jeden Tag davon lebe, dass Gott zu mir sagt: Willkommen Gabi, willkommen in diesem Leben, willkommen in meinem Herzen.

Gabi Beuscher

Vor ca. 2000 Jahren, weit entfernt im Osten von Palästina, machten gebildete Astronomen eines Nachts eine Aufsehen erregende Entdeckung. Sie beobachteten eine außergewöhnliche Sternenkonstellation.

Diese Sternenkonstellation konnte nach ihren Einsichten nur eines bedeuten: Dem Volk der Juden musste ein großartiger, neuer König geboren worden sein. In ihren Augen war dieser neue König so bedeutend, dass sie sich umgehend auf die lange Reise machten, um ihn zu sehen und ihm ihren Respekt zu erweisen. Ausgestattet mit Proviant für den Weg und kostbaren Geschenken für den Prinzen zogen sie los. Ihr Ziel war Jerusalem, die Hauptstadt des jüdischen Staates. Ihnen war klar, dass ein König nur in einem Königshaus geboren wird.

In Jerusalem sorgte ihre Ankunft für beunruhigende Aufregung. Der amtierende König dort war Herodes der Große, ein Günstling der Römer, der vom römischen Kaiser den Auftrag hatte, in dem ihm zugewiesenen Herrschaftsbereich für Ruhe zu sorgen. Diesen hatte Herodes während seiner langen Regierungszeit mit rücksichtsloser Härte auch treu erfüllt. Jeder mögliche Unruhestifter oder etwaige Konkurrent wurde umgehend ausgeschaltet, darunter auch drei seiner sechs Söhne. Jetzt war Herodes mit ca. 70 Jahren ein alter Mann geworden, der immer argwöhnischer um seinen Thron bangte. Als dann die Gelehrten aus dem Osten vor ihm standen und nach einem neugeborenen König fragten, war ihm nach dem ersten Schock klar, dass er sofort handeln musste. Er rief gelehrte jüdische Theologen und Priester zu sich, um sie genau nach den Prophezeiungen in ihren Gesetzbüchern zu befragen. Und tatsächlich fanden sie heraus, dass es uralte Ankündigungen gab über einen besonderen König, der allerdings nicht in Jerusalem, sondern im kleinen Dorf Bethlehem geboren werden sollte.

Herodes ließ die Gelehrten aus dem Osten noch einmal zu sich kommen, jedoch machte er aus dieser Audienz so wenig Aufsehen wie möglich. Er befragte sie eingehend danach, wann sie zum ersten Mal ihre besondere Beobachtung am Sternhimmel gemacht hätten. Dann schickte er sie nach Bethlehem mit dem Auftrag, genau zu erkunden, wo der neugeborene König zu finden wäre. Danach sollten sie wieder zu ihm zurück kommen und es berichten, damit auch er diesen König sehen und ihn angemessen begrüßen könne. Natürlich war das nur ein Vorwand für seinen boshaften Plan. Das schien ihm im Moment jedoch die eleganteste Möglichkeit zu sein, mit geringstem Aufwand und so unbeachtet wie möglich sein Ziel zu erreichen, nämlich einen neuen Konkurrenten um den Thron ausfindig zu machen und ihn auszuschalten.

Die Männer machten sich auf den Weg nach Bethlehem und orientierten sich wieder an dem Sterngebilde, welches sie bereits früher schon beobachtet hatten. So kamen sie genau zu dem Haus, in dem Joseph und Maria mit ihrem kleinen Kind Jesus wohnten. Voller Freude gingen sie hinein, beteten Jesus an und schenkten ihm kostbare Schätze, die sie entsprechend seiner königlichen Würde zusammen gestellt hatten. In der Nacht hatten sie einen Traum, in dem Gott ihnen befahl, nicht zu Herodes zurück zu gehen. Und so machten sie sich wieder auf und zogen auf einer anderen Route zurück in ihr Land. Nachdem sie von Bethlehem aufgebrochen waren, hatte Joseph einen ungewöhnlichen Traum: Ein Engel Gottes erschien ihm und sagte ihm, dass er mit Maria und Jesus aufbrechen und nach Ägypten fliehen müsse, weil Herodes plante, sein Kind zu ermorden. Nachdem die junge Familie schon die Strapazen der Geburt unter extrem unkomfortablen Umständen in einem Stall hinter sich hatte, war dies wiederum ein Aufbruch ins Ungewisse. Sie packten ihr Hab und Gut zusammen und zogen los. Wahrscheinlich folgten sie einer alten Handelsstraße, die über Beer-Scheva und die Sinai-Halbinsel nach Ägypten führte. Man kann davon ausgehen, dass sie in Ägypten nach altem Brauch gastfreundlich aufgenommen wurden. In der Zwischenzeit wurde dem Herodes in Jerusalem klar, dass die Astronomen aus dem Osten wohl nicht mehr zu ihm zurück kommen würden. Das war ziemlich ärgerlich und so beschloss er kurzerhand, eine Truppe Soldaten nach Bethlehem zu schicken. Nach den Informationen, die er von den gelehrten Männern hatte, erteilte er den Befehl, in ganz Bethlehem jedes Kind von zwei Jahren und darunter zu töten. Auf diese Weise hoffte er, den neuen Anwärter auf seinen Thron endgültig ausgeschaltet zu haben.

Joseph blieb mit seiner Familie wahrscheinlich zwei bis drei Jahre in Ägypten, bis zum Tod des Königs Herodes. Nachdem Herodes gestorben war, bekam Joseph von Gott in einem Traum die Anweisung, nach Israel zurück zu gehen. Wieder packte die junge Familie alles zusammen und zog los. In Israel angekommen hörte Joseph, dass ein Sohn von Herodes, mit dem Namen Archelaus, König von Judäa geworden war. Da bekam er Angst, wieder nach Bethlehem zu ziehen, weil es in Judäa liegt. Und noch einmal hatte er einen Traum, in dem Gott ihm sagte, er sollte nach Nazareth gehen. Das war ein Dorf weiter nördlich in Galiläa, außerhalb vom Herrschaftsbereich des Archelaus. So wurde eine weitere Prophezeiung über den Messias erfüllt, die besagte, er würde „Nazarener“ heißen.

Für Joseph und Maria war die Tatsache, dass Jesus – der von Gott schon lange angekündigte Messias – bei ihnen geboren wurde, von Anfang an eine absolute Herausforderung. Von Schritt zu Schritt waren sie ganz davon abhängig, dass Gott ihnen beistehen und sie schützen musste. Ihre Größe bestand darin, dass sie bereit waren, sich Gott und Seinem Plan mit ihnen ganz und gar zur Verfügung zu stellen. Das war ein Wagnis, dessen Folgen sie nicht überblicken konnten. Und deswegen war es nur unter einer Voraussetzung möglich, sich auf den Weg Gottes mit ihnen einzulassen: Sie mussten ihrem Gott voll und ganz vertrauen, d.h. Ihm zutrauen, dass Er sie durch alle Höhen und Tiefen sicher ans Ziel bringen würde. Während sie in jeder Herausforderung wieder neu auf ihren Gott vertrauen mussten, entwickelte sich ihre Beziehung zu Gott zu immer größerer Tiefe und Reife.

Gott kann man nicht aus der Distanz kennen lernen. Den Kick einer aufregenden Achterbahnfahrt erlebt keiner vom Zusehen. Man muss sich reinsetzen in dem Bewusstsein, dass ein Aussteigen während der Fahrt nicht mehr möglich ist. Es scheint fast wie eine mathematische Gleichung zu sein: Je abhängiger man sich von Gott macht und je größer die Herausforderung ist, desto deutlicher wird man Sein Handeln erfahren.

Gerd Reschke