Als Christen hören wir viel über unsere Liebe zu Gott, und wir werden immer wieder aufgefordert, unseren Nächsten zu lieben. Doch was lernen wir darüber, wie man sich selbst richtig liebt. Da kommt der Einwand, das muss man nicht lernen, es gibt ja den Selbsterhaltungstrieb. Und überhaupt, ist das dann nicht Egoismus pur? So in der Art habe ich lange Zeit gedacht.
Mittlerweile ersetze ich das Wort „lieben“ mit „annehmen“. Du sollst deinen Nächsten annehmen wie dich selbst. Was ist aber, wenn ich mich selbst nicht annehmen kann? Denn ich habe auch eine dunkle Seite. Bei den Stärken und Gaben fällt mir (und auch anderen) dieses „annehmen“ ja leicht.
Und der Alltag zeigt, wo ich mich selbst nicht annehmen kann, funktioniert das beim Nächsten auch nicht. Was tun mit diesen Grenzen in mir, die ich gerne ganz woanders hätte?
Lange Zeit habe ich mit mir gekämpft. Ich habe versucht, mich mit aller Kraft zu bessern, Grenzen zu überwinden. Ich wollte einem Idealbild von mir entsprechen, das Gott wohlgefällt und mit dem der Rest der Welt auch klar kommt.
Heute kämpfe ich nicht mehr und das nicht aus Resignation. Ein langjähriger Freund meinte nach einigen Minuten des Wiedersehens: „Doris, Du kämpfst nicht mehr!“ Ganz praktisch heißt das: ein Kompliment annehmen und mich drüber freuen, statt in falscher Demut abzuwehren. Mich selbst nicht beschimpfen mit „Ach, bin ich blöd“, wenn ich einen Fehler mache.
Ich habe mich – soweit bewusst – mit meinen Mängeln und Grenzen versöhnt.
Wie geht das denn? Perspektivwechsel – oft singen wir in Liedern „Lass mich mit deinen Augen sehen“. Das ist es: Mich selbst und meine Schatten, meine Schuld mit Gottes Augen betrachten. Zweifellos ein langer Prozess und keine Hauruck-Aktion, aber eine bewusste Entscheidung.
An Gottes uneingeschränkter Liebe zu mir und allen Menschen habe ich keinen Zweifel. Also, wenn er es schafft, mich in meiner Unvollkommenheit zu lieben, dann will ich IHM da folgen, auch wenn es mir schwer fällt. Da frage ich schon mal: „Hättest Du mich nicht etwas weniger kompliziert machen können?“ Das hätte er, hat er aber nicht. Er weiß warum.
In meinem Berufsalltag erlebe ich, wie Kinder im zarten Grundschulalter anfangen, sich selbst zu verletzen. Um Aufmerksamkeit zu erlangen, tun sie alles, auch wenn sie körperliche Schmerzen riskieren. Wie sollen da Beziehungen zu anderen gelingen, wenn der eigene Körper schon so behandelt wird? Hier ist es mein Job, das Liebenswerte in einem Kind ans Tageslicht zu holen und darüber Versöhnung mit sich selbst zu erreichen.
Oft bin ich Zeuge, wenn Kinder in unserer Leistungsgesellschaft an ihre Grenzen stoßen. Sie wollen etwas schaffen, z.B. eine gute Note in einem Diktat, aber aufgrund ihrer Rechtschreibschwäche haben sie keine Chance, egal wie viel geübt wird. Neben dem Spott und Hohn der Mitschüler macht sich im Laufe der Zeit innerlich Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit breit. Der Gedanke „Das schaffe ich nie“ bestimmt das Verhalten, welches sich in Verweigerung, Abwehr, Ausrasten und Beschimpfungen äußert.
Wenn ich es schaffe, durch kleine Erfolgslebnisse diesen Gedanken beim Kind zu sprengen, und es seine Schwäche erst mal verstehen lernt und schließlich akzeptiert, werden auch die Begleiterscheinungen weniger dramatisch.
Der Komponist Martin Pepper schreibt: „In Deinem Licht siehst Du mich, hast mich erkannt, bei meinem Namen genannt. Du kennst mein Herz, Dank und Schmerz, es liegt vor dir offen, Herr. Mein ganzes Sein, tagaus, tagein, ergibt nur Sinn, wenn ich nicht jemand andres bin. Wie du mich siehst und was du in mir liebst, das will ich sein und nur das allein.“
Darum geb ich hin, was ich will und bin, lasse los und bete an. Denn Dein Ja zu mir macht mich frei vor Dir, einfach nur ich selbst zu sein.
Doris Rhyssen