Vor einiger Zeit habe ich eine arme, kranke Witwe mit dem Motorrad in ihr 20 km entferntes Dorf gebracht. Dort sollte sie nun sterben. Hier im Krankenhaus hat der Doktor gesagt, dass ihr Brustkrebs so weit fortgeschritten wäre, dass man nicht mehr operieren könne. So habe ich unterwegs versucht, sie zu trösten. Aber was sind in solch einer Situation schon Worte?

Es war schon dunkel, als ich wieder zurück nach Hause fuhr. Im Dschungel zwischen Bakungu und Ikau muss man auf der Brücke den Bonokobach überqueren. Als ich das Motorrad aussetze, um es rüberzuschieben, hörte ich aus dem Gebüsch eine Frau ganz jämmerlich um Hilfe schreien. Durchs Gestrüpp suchte ich einen Weg, um zu sehen, was da wäre. Plötzlich standen zwei Banditen mit Gewehr und Buschmessern vor mir, und einer griff mir sofort an die Kehle und stieß mich in den Bonoko, der gerade Hochwasser hatte. Mit meinen Gummistiefeln konnte ich kaum schwimmen und wurde abgetrieben, bis ich mich irgendwo festhalten konnte.

Ich hatte noch gar nicht begriffen, was passiert war, da hörte ich das Wunder – in Form eines Motorengeräuschs. Es war ein Auto der katholischen Kirche zu dieser späten Stunde, das gerade noch rechtzeitig kam. Und weil mein Motorrad da im Weg stand, stiegen die Priester aus. Ich schrie um Hilfe, und sie hörten auch die Frau jammern. Die Banditen flüchteten, und die Priester halfen mir aus dem Wasser. Sie bargen auch die arg zugerichtete Frau. Ein Bein schien gebrochen zu sein. Mein Motorrad kam auf die Ladefläche des Autos. Ich war zwar klatschnass, aber ganz und gar unverletzt.

Die Frau kam ins Krankenhaus, und die Polizei wollte sich um die Aufklärung des Überfalls bemühen.

Zu Hause habe ich erst mal alles meiner Nanella erzählt und dabei erst begriffen, in welcher Gefahr ich mich befunden hatte. Und dann erkannte ich plötzlich, wie nah Gott mir doch ist, um mich in alle dem zu bewahren. Nanella jammerte und half mir aus den nassen Sachen. Aber ich will bis ans Ende nicht mehr zweifeln und nicht aufhören, Gott zu danken. Ganz sicher war er mir da an der Brücke näher als je in irgendeiner Kirche.

Bevor ich dir diesen Brief schreibe, war ich im Krankenhaus und bin ganz entsetzt. Rose Mbondi heißt die Ärmste, ist 29 Jahre alt vom Ngombestamm, katholisch. Ihre Eltern wurden von den Rebellen ermordet. Eine Oma hat ihr und ihrem Bruder geholfen. Sie hatte Fische gekauft, um sie weiter zu verkaufen, damit der Bruder zur Sekundarschule gehen kann. Auf dem Weg ist es dann passiert. Sie wurde überfallen. Besonders schlimm sind ihre mutwilligen Verletzungen im Unterleib. Ich habe Gott bei ihr am Bett gedankt, dass wir noch lebendig sind und habe versprochen, irgendwoher Geld für ihre Operation zu besorgen.

Psalm 68,21: Wir haben einen Gott, der hilft und der vom Tod errettet. Das ist jetzt auch mein Psalm.

Ich, Richard Iyema.

Gerd Heydn im Gespräch mit Schwester Jordana

Sie sind gerade wieder Mutter geworden, zum sechsten Mal. Ein Full-Time-Job…

„Ja, ich bin 24 Stunden am Tag für die Kinder da und passe mich in meinem Lebensrhythmus ganz den Kindern an. Jetzt fahre ich mit allen Kindern für drei Wochen in Urlaub in ein Ferienhaus nach Schweden. Das Jüngste ist gerade erst Ende Juni geboren und mir direkt vom Jugendamt übergeben worden. Das Jugendamt übernimmt Lebenshaltungskosten nach vorgegebenen Sätzen pro Tag und Kind. Die Ältesten gehen zur Schule, sind acht Jahre alt, die Jüngeren noch in den Kindergarten. Die Kinder können maximal bis zu ihrem 18. Lebensjahr bei mir bleiben. In diesem Frühjahr haben sich die Fünf taufen lassen – auf ihren Wunsch hin. Die Kinder sprechen mich mit meinem Namen an, wissen, dass ich nicht ihre leibliche Mutter bin.“

Kinderdorf-Mutter. Wie sind Sie dazu gekommen?

„Der Wunsch, eines Tages Kinderdorfmutter zu werden, reifte bei mir schon, als ich selbst noch ein Kind war. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch eine Berufung hat – etwas, was dem eigenen Leben einen Sinn gibt, etwas, das auf einen zu warten scheint, verborgen in einem selbst. Meine ersten Schritte in diese Richtung gingen über die Bewerbung für eine Lehrstelle als Kinderkrankenschwester an der Universitätsklinik Düsseldorf. Ich war 15, als unser Kaplan von Kindern sprach, die keine Familie hatten, keine Eltern, von Kindern, die niemand haben wollte, er sprach von Findelkindern. Augenblicklich stieg in mir der Wunsch auf: Ich wollte auch ein Kind finden. Ich wollte in einem Kinderdorf wohnen, unbedingt einen Beruf ausüben, der mit Kindern zu tun hat.“

Und das taten Sie dann auch…

„Nein. Ich hatte nach meinem Schulabschluss zwar eine dreijährige Ausbildung zur Kinderkrankenschwester mit Bravour bestanden, aber mit 20 wusste ich noch nicht, was ich eigentlich wollte. Meinen Traumberuf malte ich mir aus: irgendetwas mit Kindern und irgendetwas mit Gott. Das ließ sich damals aber nicht unter einen Hut bringen, so schien es mir jedenfalls. Da war noch so eine tiefe Sehnsucht in mir, Gott zu begegnen – von Angesicht zu Angesicht. Schnuppertage in einem Kloster in Münster machten mich wieder unsicher: Krankenschwester oder Klosterfrau. Ich war hin- und hergerissen. Eigentlicher Auslöser für meinen Klosterwunsch war allerdings schon viel früher meine Freundin Marie, die in Dänemark in ein Zisterzienserkloster eingetreten war.“

Und wie fiel Ihre Entscheidung letztlich aus…?

„Ich entschied mich für den Konvent in Dänemark, war 21 damals. Ich feierte eine große Abschiedsparty in Düsseldorf und verschenkte dabei alle meine Habseligkeiten an meine Freunde – einschließlich meiner ‚Ente‘. Bei jedem Stück wurde es mir leichter ums Herz. Endlich frei – frei für Gott. Aber in meiner Freiheit sah ich mich in Dänemark bald mehr und mehr eingeschränkt. Ich vermisste mein altes Leben, meine Freiheit, Verrücktheiten und Selbstverantwortung. Ich schluckte hinunter, was mir aufstieß. Immer öfter störten mich Dinge und beunruhigten mich in meinem klösterlichen Dasein. Entweder man wird verrückt oder der Geist wird leer – und Gott kann in diesen leeren Raum hineinfließen. Mit der Zeit spürte ich, dass ich mit Gott ins Gespräch kam.“

Was hatten Sie auszusetzen, was beunruhigte Sie?

„Ich litt unter einer Wiederbelebung mittelalterlicher Regeln und Rituale, einer Praxis, wie sie in Gefängnissen üblich war. Briefe nach Hause mussten der Oberin offen vor die Zimmertür gelegt werden. Jeden Freitag fand ein regelrechtes ‚Tribunal‘ statt mit schonungslosen Selbstanklagen – ein abartiger Wettbewerb mit geradezu masochistischen Zügen. Ich empfand kein Bedürfnis nach dieser Art Selbstquälerei und zog mich zurück und ins Gebet.“

Welche Konsequenzen zogen Sie für sich aus diesen Erfahrungen?

„Durch ein Praktikum in dem von Dominikanerinnen geführten Bethanien-Kinderdorf in Bergisch Gladbach kam ich dann mit 24 in eine vollkommen andere Welt. Nach meiner Rückkehr nach Dänemark erkannte ich sehr schnell: Hier bin ich falsch! Zwei Wochen vor meinem angedachten ewigen Profess verließ ich den Ort, wo ich zwar Gott gefunden, aber den Glauben an die Autorität verloren hatte. Der wichtigste Grund, warum ich meine Erfahrungen in einem Buch aufgeschrieben habe ist, dass ich Menschen ermutigen möchte, sich zu wehren, die in einer ähnlichen Situation leben wie ich damals – egal ob in der Kirche oder anderswo. Meine eigene Sicht war eingemauert in einer Welt voller Abhängigkeit, Angst und Nichtwahrhabenwollen. Es ist nur meiner Freiheitsliebe zu verdanken, dass ich letztlich doch den Schritt nach außen wagte. Ich habe diesen Leidensweg dreieinhalb Jahre ausgehalten. Aber es war auch eine Zeit, die mich stark gemacht hat.“

Was änderte sich für Sie durch den Übertritt zu den Dominikanerinnen in Bergisch Gladbach und später nach Schwalmtal-Waldniel?

„Ich war damals immer noch unterwegs zu mir selbst. Wichtig erschien mir, mich von meinen Schuldgefühlen zu befreien, die ich aus Dänemark mitgebracht hatte. Ich habe gelernt, dass es nicht wichtig ist, wie oft du fällst, viel wichtiger ist, wie oft du wieder aufgestanden bist. Was ich als Christin tun kann: etwas von der Liebe Gottes weitergeben. Wir sollten nicht die Schuld bei Gott suchen, wenn wir falsche Entscheidungen treffen und uns dann beschweren, dass Gott die Dinge zulässt, die daraus entstehen. Ich war nie eine stromlinienförmige Schwester, aber eine mit Feuer und Flamme.“

Und heute…?

„…fühle ich: Hier, in diesem Kinderdorf, bin ich zu Hause! Die Gewissheit ist in mir zurückgekehrt, dass ich zu Gott gehöre – zu keinem anderen. Ich wollte mehr Zeit mit ihm verbringen, mich noch tiefer auf ihn einlassen. Und es ist mir eine Herzensangelegenheit, Kindern eine Stärkung, eine Stimme, eine Sicherheit zu geben. Die Entscheidung, Kinderdorf-Mutter zu werden, war wieder Berufung gewesen, ein neues Stück des Weges zu mir selbst, mit vollkommen anderen Herausforderungen.“

Sie haben in Ihrem Buch auch nicht mit Kritik an der Kirche gespart.

„Ich habe gelernt, dass Veränderungen von innen heraus kommen müssen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass eines Tages der Heilige Geist über unsere Patriarchen kommt und der ‚Wind of Change‘ die Kinder, vor allem die Mädchen von morgen ergreifen kann. Eine Schwester hat mir Mut gemacht, nicht mit allem einverstanden sein zu müssen, sondern Stellung zu beziehen. Und trotzdem dabei ‚Vereinsmitglied’ in der Kirche bleiben zu dürfen. Mutter Teresa hat einmal auf die Frage geantwortet, was sich denn in der Kirche ändern müsse: Sie und ich!“

 

Dienstags 11.00 Uhr – 12.00 Uhr.
Donnerstags 11.00 Uhr – 12.00 Uhr.

Bisschen wenig? Ja! Aber leider nötig. Wegen für uns bindender Beschlüsse der Evangelischen Kirche im Rheinland müssen wir uns ab dem 01.07.2017 der Zentralverwaltung aller Gemeinden des Kirchenkreises Gladbach-Neuss anschließen. Mehr Kompetenz und Kosteneinsparungen waren die ursprünglichen Ziele dieser Beschlüsse. Heute ist schon klar, dass deutliche Kostensteigerungen für unsere Kirchengemeinde sicher sind. Kompetent ist unsere kleine selbständige Verwaltung gewesen, wie nicht nur bei Gesprächen über die Übergabe der Verwaltungsgeschäfte bestätigt worden ist. Weil nach dem Anschluss an die Zentralverwaltung nur noch wenige Verwaltungsaufgaben von uns selbständig ausgeführt werden dürfen, ist das Gemeindebüro in Kelzenberg nur noch sehr selten mit unserer bewährten Vor-Ort-Kraft Sabine Dietrich besetzt. Diese Entwicklung war für unsere Kirchengemeinde in ihren Grundzügen nicht beeinflussbar.

Volker Schopen

So, oder ähnlich klingt es, wenn Sie am Sonntagmorgen unsere Kirche betreten. 

Zwei Mitarbeiter stehen eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes an der Tür und wollen eine einladende, herzliche Atmosphäre für die Besucher schaffen. Dabei können dann direkt Neuigkeiten ausgetauscht oder Fragen gestellt werden. Besonders wichtig ist der Dienst für Menschen, die zum ersten Mal in den Kelzenberger Gottesdienst kommen. Deshalb stehen jetzt auch seit über sechs Jahren immer zwei Begrüßer am Eingang. Einer kann sich dann direkt etwas intensiver um die Neulinge kümmern, während der andere weitere Gäste begrüßt.

Aufgebaut hat den Kelzenberger Begrüßungsdienst einer der beliebtesten Kelzenberger, der im Frühjahr 2017 verstorbene Pavel Hovorak. Als er Anfang der 1980er Jahre als „Fremder“ in Kelzenberg seine geistige Heimat fand, wollte er nicht nur Kirchenbesucher sein, sondern seinem Herrn auch aktiv dienen. Und er erkannte ein Defizit in der Kelzenberger Willkommenskultur. Sonntag für Sonntag stand er seitdem im Eingangsbereich, begrüßte die Leute und schob in den Gesangbüchern sogar schon mit viel Liebe zum Detail die Einlegebändchen an die richtige Stelle für die ersten Lieder.

Seitdem sind Jahrzehnte vergangen – weil die Lieder jetzt an die Wand projiziiert werden, hat sich das Gesangbuch-Verteilen erledigt. Dafür werden aber schon mal Flyer und Kopfhörer ausgegeben oder Blätter mit den aktuellen Monatsliedern.

Der Dienst hat sich den aktuellen Gegebenheiten angepasst und ist nicht mehr zu Gottesdienstbeginn beendet. Durch die steigenden Besucherzahlen entsteht gerade im hinteren Bereich der Kirche zu Beginn des Gottesdienstes mehr Unruhe – und bis 10.15 Uhr kommen immer noch Besucher, die von den Begrüßern dann schon mal mit einem „Pssst-leise“ auf den Lippen zu freien Plätzen oder auf die Empore geschickt werden.

Seit vielen Jahren leitet Isabell Hille jetzt das Begrüßungsteam, in dem zur Zeit neben ihr noch Marlies Büchen, Sabine Schmiedeke, Jörg Gerhard, Ralf Kunze und Wilfried Lüngen die Lust auf den Gottesdienst vermitteln wollen.

Wilfried Lüngen

Herbert Großarth, Jahrgang 1944, ist pensionierter Pfarrer aus Oberhausen. Im Juli war er wieder einmal in Kelzenberg zu Gast und beschäftigte sich in seiner Predigt mit dem Geheimnis, das unser Leben umgibt. Hier eine gekürzte Version zum Nachlesen.

Wir Menschen möchten so gern alles in den Griff kriegen, alles aufschlüsseln, analysieren und erklären können. Und weithin ist es uns ja auch gelungen. Das, was früher rätselhaft war, ist heute erklärt – und damit abgehakt, bekannt, aufgedeckt. Mehr und mehr Bereiche werden wissenschaftlich aufgeschlossen und verlieren ihre verzauberte Rätselhaftigkeit. Wir fassen alles in Formeln, Systeme, Begriffe: Wir entzaubern die Welt und hoffen, die Angst zu verlieren vor Kräften, Zuständen und Ereignissen, die wir nicht erklären können. Das Leben in den Griff kriegen, planen, voraussehen, beeinflussen, steuern, manipulieren – das machen wir zu unserer Aufgabe. So schön – so gut. Was wir wissenschaftlich entzaubert haben, davor brauchen wir keine Angst mehr zu haben. Wer wollte dagegen etwas sagen?

Aber – als Nebenprodukt – so unter der Hand, meist gar nicht gewollt, da passiert noch was anderes: Wir verlernen das Staunen, wir verlernen das Sich-Wundern. Vor lauter Nüchternheit erdrücken wir uns und andere. Der Zauber ist weg, die Faszination ist weg, das Fragen ist weg. Trotz aller Wissenschaftlichkeit, trotz allen Wissens und Könnens macht sich eine ungeheure Oberflächlichkeit breit – gerade weil man meint, alles aufschlüsseln, alles erklären, alles machen zu können. Wir sind dabei, das Staunen, das Sich-Wundern, das Danken zu verlieren. Und wer nicht mehr staunen kann, wer nicht mehr danken kann, der lebt nicht richtig. Er lebt – ja, aber an der Oberfläche, und das Leben wird kalt. Er lebt mit seinem Kopf, aber nicht mit seinem Herzen. Er lebt, aber er er-lebt nichts mehr.

Nur da, wo man noch staunen kann, erlebt man Überraschungen. Und nur da, wo man noch Überraschungen erlebt, kann man richtig, tief von Herzen danken. Mit dem Herzen lebt, wer um Geheimnisse weiß.

Ein Geheimnis – das ist etwas, was letztem Zugriff verborgen ist, was eben nicht zu analysieren, nicht zu erklären und nicht aufzuschlüsseln ist. Zugang zu einem Geheimnis bekommt man nur, wenn es sich uns erschließt. Zugang zu einem Geheimnis kann man nicht mit dem Kopf, sondern nur mit dem Herzen bekommen. Und doch wird man ein Geheimnis nie ganz aufschlüsseln, nie ganz erklären und analysieren können. Ein Geheimnis wird letztlich immer ein Geheimnis bleiben. Letztlich wird man vor einem Geheimnis nur staunend, betrachtend, fragend stehen können, sich von ihm ergreifen und faszinieren lassen und dann erleben, wie es sich mehr und mehr aufschließt und uns erfüllt. Nur: Es müssen uns die Augen geöffnet werden, die Augen des Herzens. Mit einem Geheimnis muss man behutsam, ja ehrfürchtig umgehen. Sonst zerbricht es, wird es zerstört. Ein Geheimnis ist nicht in den Griff zu kriegen; es kann nur beschrieben und bewundert werden.

Ich möchte Sie heute einladen, einige Geheimnisse zu entdecken, die Gott in diese Welt hinein gelegt hat. Vielleicht wird es geschehen, dass wir wieder neu zum Staunen und Danken kommen. Wer an Gottes Geheimnissen das Staunen wieder lernt, wird bereichert, wird behutsam, wird ehrfurchtsvoll.

Drei solcher Geheimnisse möchte ich Ihnen heute vor Ihre Augen malen. Geheimnisse, die man nie wird ganz aufschlüsseln können, Geheimnisse, an denen man das Staunen lernen kann.Geheimnisse, mit denen man behutsam, dankbar und ehrfürchtig umgehen wird, wenn man das Große, das Schöne, das Unerklärliche an ihnen entdeckt hat.

Das erste Geheimnis ist der Mensch, sind wir, ist jeder und jede von uns.
Jeder Mensch ist ein Geheimnis, jeder Mensch bleibt geheimnisvoll, selbst wenn man noch so viel von ihm weiß. Jeder Mensch ist etwas Großes, Schönes, Unerklärliches, Einmaliges.

Aus der Bibel lese ich heraus: Dem Geheimnis des Menschen werden wir durch alle wissenschaftlichen Untersuchungen und Experimente, durch alle theoretischen Reflexionen nicht auf die Spur kommen. Das Geheimnis des Menschen entzieht sich letztem Zugriff. Die Bibel sagt nun, worin das Geheimnis gründet, warum das so ist: „Gott schuf den Menschen IHM zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf ER ihn.“ Das ist das Geheimnis eines jeden Menschen. „Zum Bilde Gottes geschaffen…“ – das macht den Menschen so wertvoll, so kostbar; das ist das Schöne, das Unerklärliche, das Besondere an ihm.

Darum ist jeder Mensch ein Geheimnis, mit dem wir nur behutsam, dankbar, ja ehrfürchtig umgehen können. Jeder Mensch ist ein Stück des Geheimnisses Gottes. In ihm liegen Gaben und Fähigkeiten Gottes: die Gabe der Kreativität zum Gestalten, die Gabe, Beziehungen einzugehen, die Gabe, zu planen, zu entscheiden, zu denken. Die Gabe, Verantwortung übernehmen zu können – für sich selbst, für andere. Jeder Mensch – ein Stück des Geheimnisses Gottes. Gott hat ihm die Ewigkeit ins Herz gegeben, sagt Gottes Wort im Prediger. Jeder Mensch – ein Ebenbild Gottes.

Aber hier regt sich Widerspruch. Stimmt das denn? Ebenbild Gottes? Ist dieses Ebenbild nicht zerstört, ist es nicht ein Zerrbild, eine Fratze geworden? Ebenbild Gottes? Ich? Sie? Die anderen? Genau – das stimmt! Das Ebenbild Gottes ist angekratzt, ist verdreckt, ist verzerrt, ist vielfach eine Fratze geworden. Unsere Sünde hat das Geheimnis zerstört – und doch, und doch: Gott hat sich nicht damit abgefunden! Er hat es wieder neu gemacht. Wir alle – und wären wir noch so verdreckt, verkehrt, verzerrt – wir alle sind weiter Gottes Hoffnung, Gottes Sehnsucht, Gottes großer Wunsch. Er wartet darauf, in unser Leben hinein zu kommen, unser Leben zu erneuern, zu durchstrahlen, zu durchwirken. Das ist das große Geheimnis, etwas, worüber ich nur staunen kann: Ich bin nicht das, was ich leisten, was ich aufweisen kann. Ich bin auch nicht das, was ich mir leisten kann. Ich bin nicht einmal das, was ich von mir denke oder was andere von mir halten. Ich bin Geliebter Gottes, Bruder, Schwester Jesu.

Das ist mein Wert, mein Geheimnis. Darüber kann ich nur staunen. Und das steht als Verheißung über jedem und jeder: Wir sollen Kinder Gottes sein. Gott will uns in Ewigkeit bei sich haben. Das ist unser Adel, unsere Auszeichnung, unser Wert. Das steht als unser Geheimnis, als Verheißung Gottes über uns.

Das zweite Geheimnis, vor dem man nur staunend stehen kann, ist das Wunder der Liebe.
Dass zwei Menschen sich einander anvertrauen und miteinander leben wollen, dass sie sich einander zuzumuten wagen – das entspricht zwar unserer Beobachtung, ist aber gar nicht so selbstverständlich. Es ist ein Wunder. Es ist ein Geheimnis.

Gottes Liebe lebt in Liebenden. Ob Menschen ahnen, was sie verspielen, wenn sie lieben und Gott nicht wollen? Ob junge Leute ahnen, um welche Erfahrung sie sich bringen, wenn sie Verliebt-Sein schon als Liebe interpretieren und nicht warten können? Ob sie ahnen, dass jedes Vorgreifen ein Vergreifen ist, ein Vergreifen an Gottes Geheimnis im anderen?

Wo man sich aneinander vergreift, wird Gottes Geheimnis zerstört, und darum wird so manche Liebe oberflächlich, eintönig und fad und schal, reine Bedürfnisbefriedigung. Und das ist mit ein Grund, warum so viele Beziehungen in die Brüche gehen: Man hat sich im Vorgreifen vergriffen an Gottes Geheimnis.

Und das dritte Geheimnis, das größte Geheimnis ist Jesus Christus selbst.
Jesus lässt sich nicht in Begriffe fassen; er hat sich allen Versuchen entzogen. Sein Geheimnis ist nicht aufzuschlüsseln. Man kann ihn höchstens beschreiben, seinen Weg nachzeichnen, seine Worte nachsprechen, sich seinem Anspruch stellen.

Aber: Zugang zu diesem Geheimnis kann man nicht mit dem Kopf, sondern nur mit dem Herzen bekommen. Wer sich mit Jesus beschäftigt, wer das Neue Testament liest, die Berichte von dem, was Jesus getan, geredet und bewirkt hat, wird anfangen zu staunen. Er wird beeindruckt sein von dem, was sich da auftut. Und wenn wir uns mit Jesus beschäftigen, dann werden wir erleben, dass er sich mit uns beschäftigt, dass er sich uns aufschließen will, Zugang geben zu seinem Geheimnis. Und das nicht nur in besonderen Augenblicken, in stimmungsvollen Höhepunkten, beim Praisen oder auf einer Freizeit. Er ist auch dann da, für dich da, wenn du down bist, ratlos, genervt, enttäuscht.

Um seine Nähe brauchen wir nicht zu betteln. Er ist uns nahe; wir stehen ihm nahe, und es geht ihm nahe, was wir erleben.

Das erleben wir aber nur, wenn wir ganze Sache machen wollen. Wenn wir uns Jesus aussetzen, uns auf ihn einlassen wollen. Nur dann wird sein Geheimnis uns in den Bann ziehen. Dann werden wir nicht nur staunen, sondern hingerissen sein, dann werden wir nicht nur von ihm hören, sondern mit ihm leben wollen. Und dann wird etwas in unser Leben hinein kommen, das wir vorher so nicht kannten: Faszination über Jesus, mehr noch: Liebe zu Jesus. Und dann werden wir die Erfahrung machen: Von Jesus strahlt etwas aus, strahlt etwas in unser Leben hinein, zündet etwas in uns an, das unser Leben reich macht.

Verstehen werde auch ich das nie, dass Gottes Liebe Opferliebe ist; verstehen werde ich das nie können, dass Gott sich in Jesus Christus für uns zu Tode liebt; verstehen werde ich das nie können, dass Jesus Christus mir seine Freundschaft anbietet, mich in Ewigkeit bei sich haben will und nicht irre wird an mir, obwohl ich ihn schon so oft enttäuscht habe. Verstehen, logisch begründen, beweisen kann ich das nicht. Aber danken für dieses Geheimnis – das kann ich.

Glücklich, die das Staunen wieder gelernt haben! Deren Leben wird reich.

Herbert Großarth

In der Geschichte des Christentums finden sich sämtliche Verbrechen wieder, die sich auch durch die gesamte Menschheitsgeschichte ziehen. Da gibt es fatale Entwicklungen, wie Kreuzzüge, Völkermord im Namen des Kreuzes, Hexenverfolgung oder die Inquisition. 

Aber auch in viel kleinerem Maßstab gab und gibt es Machtmissbrauch, Unterdrückung und Abwertung von freier Meinungsäußerung, die Gier nach Geld und Vorteilen aller Art, das Einsetzen von Angst und Einschüchterung als Führungsinstrument, sowie zahllose Streitereien, Spaltungen und Konflikte. Diese Liste des Versagens könnte leider noch deutlich verlängert werden. Wenn man „die Kirche“ (egal ob rk oder ev) zum Sündenbock machen will, findet man reichlich Material, wo sie tatsächlich schwere Schuld auf sich geladen hat. Nun ist natürlich „die Kirche“ eine Institution, die als formales bzw. juristisches Gefüge ohne die Menschen in ihr nichts bewirken und nicht handeln kann. Die Handelnden, die Ausführenden sind immer Personen, die die Institution vertreten oder meinen, im Sinne der Institution zu agieren. Es sind die Menschen, die der Kirche ein Gesicht geben. Menschen prägen und formen die Institution Kirche und die Kirche prägt die Menschen. In diesem Prozess stellt sich die wichtige Frage: Wohin geht die Reise? Wer oder was gibt die Richtung vor? Anhand welcher Kriterien kann dieser Prozess überprüft und bei Bedarf die Richtung korrigiert werden?

Martin Luther hat in seinem Leben mit aller Ernsthaftigkeit danach gesucht, die Gerechtigkeit Gottes in seinem Leben zu verwirklichen. Dabei befolgte er strikt die Regeln, die ihm von der Kirche vorgegeben wurden. Er kam in eine Lebenskrise, als er erkannte, dass seine eigene Unzulänglichkeit ihn blockierte. Er erreichte nicht das Maß an Heiligkeit, das ihn vor Gott gerecht machte. An diesem wichtigen Punkt konnte Gott ihm begegnen und ihm offenbaren, dass die Gerechtigkeit im Evangelium ein Geschenk ist. Diese Offenbarung bekam er beim Studium des Römerbriefes. Die wichtige befreiende Erfahrung, dass das Wort Gottes die entscheidende Richtungsänderung in seinem Leben bewirkte, wurde für ihn zu einem Fundament. Er sah immer deutlicher, dass das Wort Gottes die bedeutende, zentrale Kraft ist, die die Menschenherzen verändern und erneuern kann. Darüber hinaus wird natürlich auch die Kirche geprägt und erneuert von den Menschen, die dem Wort Gottes diese Priorität in ihrem Leben zugestehen. Martin Luther beantwortet diese Fragen so: Es gibt keine Kirche, wo nicht das Wort des Herrn ist, und da, wo das Wort des Herrn ist, muss notwendigerweise auch seine Kirche sein.

So schlicht dieser Satz sich auch anhören mag, so herausfordernd wird er bei näherem Hinschauen. Verallgemeinernde Pauschalabwertungen, wie „Die Kirche ist ja…“ „Die Kirche hat ja….“, „Die Kirche macht ja…“, sind weder hilfreich noch weiterführend. Vielmehr muss man genau hinsehen und hinhören und dann fragen: Handelt es sich hier um Menschen, die vom Wort Gottes geprägt sind? Haben sie sich durch das Wort erneuern und ihr Leben von ihm gestalten lassen? Die Voraussetzung, um das überhaupt prüfen zu können, ist das Wort zu kennen. Deshalb Martin Luthers Anliegen, die Bibel für alle lesbar zu machen. Ganz aktuell müssen wir, die wir die Kirche bilden, uns selber fragen: Welche Priorität hat das Wort Gottes in unserem persönlichen Leben? Ist das was wir tun, was uns bewegt und antreibt eine Auswirkung der erneuernden Kraft Gottes? Geht es um unser Ansehen, um unseren Einfluss und Macht oder Geld? Oder wollen wir die Kraft des Evangeliums nutzen, um zu erneuerten, selbstlosen und auf Gottes Anliegen ausgerichteten Menschen zu werden. Jesus Christus hat zu seiner Zeit auf die gleichen Missstände hingewiesen, die wir auch heute in der Kirche finden können. Er sprach sehr scharf über Heuchelei. Heuchler sind Schauspieler, Menschen die so tun als ob. Sie geben sich fromm, während sie von egoistischen Motiven angetrieben sind.

Jesus ist berechtigt, diese Haltung anzuprangern, da er selbst ja die Möglichkeit geschaffen hat, erneuert zu leben. Sein drängendstes Anliegen ist, mit seinen Menschen in Beziehung zu leben. Nur in der vertrauenden Beziehung zu Jesus Christus können wir ihm erlauben, unser Leben zu prägen. Die Erneuerung der Kirche wird nur möglich, wenn es Menschen gibt, die zuerst sich selber verändern lassen.

Gerd Reschke