Gerd Heydn im Gespräch mit Heinz Berthold
In 2016 sind Sie noch tausende Kilometer mit dem Auto gefahren, waren im Sommer mit Ihrer Frau im 52. Jahr als Ferien-Seelsorger auf der dänischen Insel Bornholm. Mitte Oktober sind Sie mit 85 noch 50 Kilometer Rad gefahren. Jetzt liegen Sie hier nach einer Rücken-Operation in einem Hospiz in Kaarst…
„Ja. Der Krebs hat meinen Körper angefressen, drei Rückenwirbel aufgeweicht. Meine Beine gehorchten mir plötzlich nicht mehr. Die Operation im November war ein Versuch, mir meine Mobilität zurück zu bringen. Aber ich wäre am Willen Gottes nicht vorbei gekommen, auch nicht durch den menschlichen medizinischen Eingriff. Ich bin jetzt ans Bett gefesselt, vom Brustkorb abwärts gelähmt. Weitere Operationen wird es nicht geben! Mir ist bewusst, wo ich hier liege. Der Krebs schreitet fort. Ein Hospiz ist ein Sterbehaus…“
Und jetzt hadert der Gottesmann Heinz Berthold mit Gott?
„Nein, nein – Jesus ist bei mir und hilft mir. Ich bin nicht in Verzweiflung und Verbitterung geraten. Mir wird langsam bewusst, dass Gott mich in dieses Bett gelegt hat, um Jesus im Hier und Jetzt erleben zu können. Ich bekomme mehr und mehr die Gewissheit, dass Jesus jetzt bei mir ist und hilft, diese Situation zu ertragen. Wenn das nicht so wäre, würde ich wahrscheinlich wahnsinnig werden. Ich habe mich im ersten Moment nach der Krebs-Diagnose zwar gefragt: Wärst du doch mal zur Vorsorge-Untersuchung gegangen. Aber ich glaube fest, dass es Gottes Wille ist, dass ich hier liege.“
Aber ein kleiner Schock war das doch sicherlich, als Sie ins Krankenhaus kamen, für einen Mann, der in diesem Alter noch so fit war wie Sie?
„Als ich zuletzt auf Bornholm war, habe ich in der Tat darüber nachgedacht, warum das so ist, dass ich noch so fit bin – und dann jetzt dieser abrupte Absturz. Aber dann hatte ich direkt zu Beginn meines Krankenhausaufenthaltes im Franziskus in Mönchengladbach zwei Erlebnisse, die mich fest in Gottes Hand wissen ließen. Im Aufzug traf ich einen alten Bekannten von früher, den Krankenhausseelsorger Schimanski, der mir gerade heraus sagte: ‚Heinz, Du musst Dich jetzt auf eine neue Wirklichkeit einstellen. Die solltest Du akzeptieren. Wir sollten uns nicht belügen.‘ Wenig später stand mir die Radiologin, Oberärztin Frau Dr. Büsche-Schmidt, gegenüber, die – wie sich im Gespräch herausstellte – seit etwa zehn Jahren zum Gottesdienst nach Kelzenberg kommt. Sie hat sich rührend um mich gekümmert. Ich war wahrlich in besten Händen.“
Der einzige Schmuck in Ihrem Hospiz-Zimmer ist ein Jesus-Buchstabenmobile, das Sie sich vor zehn Jahren aus Brasilien mitgebracht haben. Sie haben Jesus also buchstäblich vor Augen?
„Ja, so soll es sein. Jesus ist meine Zukunft – da, wo ich einmal hinkommen werde. Ich habe an Jesus festgemacht. Das heißt nicht, dass ich hier im Krankenbett in Anbetracht meines Zustandes pausenlos Halleluja singe. Aber ich empfinde eine gesegnete und aktive Zeit für mich in diesem Krankenbett. Ich lese soviel wie noch nie in meinem Leben – in der Bibel, im Gesangbuch, in den Losungen und die Bücher von Josef Ratzinger. Wenn ich nachts nicht schlafen kann, schlage ich Ratzingers ‚Jesus von Nazareth‘ auf. Ratzinger rückt nach meinem Verständnis das Jesus-Bild wieder zurecht, das nur allzu oft in christlichen Gemeinden zerpflückt wird, weil wir nicht mehr in der Gegenwart Gottes leben. Ratzinger baut mich auf. Es kommt mir bald so vor, dass mich Gott ins Bett gelegt hat, um dieses Buch noch mal konzentriert und in Ruhe zu lesen.“
Wenn Sie sich nicht damit beschäftigen, was geht Ihnen dann durch den Kopf?
„Die Lektüre, das konzentrierte Lesen lässt mich mein eigenes Denken im Laufe meines Lebens noch einmal überdenken. Mir wird bewusst, wie Gott mein Leben gelenkt hat, von Station zu Station. Wenn ich selbst aktiv wurde, ging es meistens schief. Ich habe die Hand Gottes unendlich oft in meinem Leben gespürt. Dafür bin ich dankbar. Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen und meine Zeugen sein, heißt es in Apostelgeschichte 1,8. Dieser Spruch, den ich bei der Einsegnung zum Abschluss meiner Ausbildung 1957 im Johanneum in Wuppertal erhielt, ist zum entscheidenden Fixpunkt in meinem Leben geworden.“
Sie liegen hier in Kaarst – da, wo Sie die schlimmste Zeit Ihres beruflichen Lebens als Pfarrer durchgemacht haben. Wirken die Erinnerungen daran immer noch nach?
„Für mich schließt sich hier ein Kreis. Wir haben in Kaarst über viele Jahre bis zu meiner Pensionierung 1995 in Unfrieden mit einigen wenigen in der Gemeinde gelebt – leben müssen. Ein früheres Gemeindemitglied hat mich besucht und jetzt am Krankenbett geradezu aufgefordert, über Vergebung und Versöhnung nachzudenken. Das Gespräch geht noch weiter. Gottes Erneuerungswille trägt Früchte in mir. Ich bin zum Frieden bereit. Und noch ein Hinweis für mich, dass der Kreis sich schließt: Ich hatte vor zweieinhalb Jahren einen kleinen Altar und ein Kreuz aus dem alten Kaarster Gemeindezentrum zu mir nach Hause nach Kelzenberg geholt, weil sie sonst entsorgt worden wären. Am 23. Oktober, also unmittelbar vor meiner Erkrankung, habe ich Altar und Kreuz in das neu belebte Gemeindezentrum zurückgebracht. Gott hat mich dafür gebraucht, eine kirchliche Angelegenheit zu einem guten Abschluss zu bringen.“
Haben Sie an Ihrem Krankenbett alte Kontakte wieder auffrischen können?
„Sehr viele. Es ist täglich ein Kommen und Gehen in meinem Zimmer. Ich staune über das Echo, das Gott mir jetzt hier gibt. Ich habe noch nie soviel gebetet wie jetzt hier von meinem Krankenbett aus – mit anderen Menschen. Gott hat es wohl so eingerichtet, dass mein Bett zur Kanzel wird. Das sagte mir eindeutig: Nur Mut, es geht weiter! Gott hat seine Schöpfung auch heute nicht aufgegeben. Unsere Zukunft bekommen wir von Gottes Seite. Die Schöpfung Gottes drückt sich in einer immerwährenden Erneuerung aus.“
Und die Konsequenzen für Sie aus dieser Erkenntnis?
„Herr, Dein Wille geschehe. Ich verspüre keine Angst vor dem Sterben. Ich habe noch ein paar Wochen zu leben – vielleicht auch noch ein paar Monate. Ich weiß es nicht. Ich gebe zu, ich habe gerne gelebt, aber ich glaube fest: Das Schönste kommt erst noch…“